Berichte aus Paris

Berichte über mein Studienjahr in Paris
Freitag, 17. Oktober 2003
No 01 - 15/10/2003 - Ankunft.Aufstand.
Werte Freundinnen und Freunde,

nun sitze ich also erstmals hier in meiner Schlafkammer und versuche, einen Eindruck davon zu vermitteln, was sich um mich herum abspielt, was ich erlebe und was sich mir zuträgt.

Der Ort, an dem sich diese Schlafkammer befindet, ist ganz wunderbar und gleichzeitig etwas seltsam. Die Cité Internationale Universitaire de Paris kann man sich als eine großzügige Campusanlage mit Häusern der unterschiedlichsten Nationen vorstellen, in der 5500 Studierende und einige wenige Forscher aus dem Ausland und teilweise auch aus Frankreich ihre Zeit in Paris verbringen. Angesichts der teilweise wirklich großartigen Architektur, die diese Häuser haben - das Maison Heinrich Heine, aber auch einge andere Häuser sind echte Perlen der 50er Jahre, andere Häuser haben eher einen klassizistischen Stil und versuchen, großbürgerlich zu protzen - wirkt die bunte, laute und sehr lebendige Athmosphäre seltsam unintellektuell. Zwar wird man an allen Ecken und Enden überschüttet mit Theaterabenden , Filmvorführungen, Diskussionrunden und Tanzkursen - doch die Gespräche in der Mensa erinnern einen eher an ein billiges Touristenlokal. Mit viel sportlichen Menschen und einem umtriebigen Verein, der günstige Reisen in die umliegenden europäischen Metropolen sowie günstige Besäufnisse zum Zweck der schnellen und reibungslosen Integration veranstaltet hat die Anlage aber dennoch Ihren Charme - nur eben manchmal eher den eines Youth-Hostels mit Kulturprogramm als den eines Hortes des intensiven internationalen Gedankenaustausches.

Wagt man sich in die umliegenden Straßen - die CIUP liegt im 14. Bezirk, am südlichen Rand der Pariser Innenstadt -, so befindet man sich Richtung Nord-Osten inmitten schwindelerregender Hochhäuser, die unvorstellbare Mengen von Menschen ausspucken und einem vor Augen führen, wie viele Menschen diese Stadt doch hat, in Richtung Nord-Westen dagegen kann man sich (u.a. auf der Allee Samuel Beckett) in Richtung eines netten, belebten und teilweise sehr schönen Viertels vor dem Gare Montpernasse bewegen. Sicherlich ist das nicht gerade das Zentrum der Kreativen und Schönen, aber doch ein Umfeld, in dem es sich durchaus leben lässt - zumal man mit dem RER (einer Art S-Bahn, nur schneller) in 20 Minuten bei Notre-Dame oder am Centre Pompidou ist.

Noch ein paar Worte und Gedanken zum derzeit aktuellen kunstpolitischen Hauptthema. Die freie Theater- und Kunstszene von Paris befindet sich derzeit in Revolutionsstimmung. Grund ist - so weit ich das verstanden habe - so eine Art Vereinbarung (ein Tarifvertrag?) zwischen dem französischen Staat und irgendwelchen Künstlersozialverbänden, der eine massive Einschränkung der Zuwendungen zur Folge haben wird, die freie Künstler hier unter bestimmten Umständen auch ohne aktuell laufende Arbeit erhalten. Diese Woche ist die offizielle Protestwoche, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass man, wenn man ins Theater geht im Anschluss eine kurze Ansprache erhält, im Foyer Unterschriften gesammelt werden und außerdem dutzende Lesungen, Manifeste, Foren etc. veranstaltet werden.

Bei diesen Verlautbarungen gegen die unterzeichnete Vereinbarung wird dann gleich zu sehr prinzipiellem Vokabular gegriffen: Die Freiheit der Kunst sei in Gefahr, es gehe darum, das Wahre, Gute und Schöne zu bewahren, die Alternative, die sich die Regierung wünsche, sei eine reine Kommerzkunst wie "Starmania" o.ä., die automatisch entstünde, wenn man die Kunst einem etwas liberalisisertem Markt aussetzte... Diejenigen Theater, die diesen Vertrag mit unterschrieben haben, seien Kollaborateure und Faschisten... Die Rhethorik erinnert sehr stark an den Münchner ASTA. Auffällig ist, dass unter all diesen rhethorischen Großangriffen kaum herauszufinden ist, worum es denn nun eigentlich konkret geht. Versucht man, sich zu informieren und stellt dabei ein paar kritische Fragen, so kann es einem leicht passieren, dass die Aggressionen, denen man ausgesetzt ist einem das klare Denken etwas verleiden.

Und so eröffnet sich mir die Pariser Kunst- und Theaterszene gleich zu beginn sehr zweischneidig: Einerseits bin ich begeistert und überwältigt von dem unglaublichen Reichtum, der Vielfalt und dem Engagement, das die festen Häuser, aber auch die freie Szene an den Tag legen. Man gerät fast in Panik, weil es einem kaum möglich ist, auch nur irgendwie den Überblick zu behalten. Andererseits fragt man sich schon, ob dieser Reichtum nicht auch ein ziemlicher Luxus ist, der dafür sorgt, dass sich eine insgesamt doch recht kleine Elite in einer bunten und metropoliten Stadt eben auch noch das mehr oder weniger intellektuelle Amüsement leisten kann.

Diese Widersprüchlichkeit findet sich in Paris auf ganz vielen Ebenen. Auch im sozialen Bereich ist es schon sehr auffällig, dass beispielsweise das studentische Leben deutlich mehr subventioniert zu sein scheint, als es bei uns der Fall ist: Unglaubliche Massen von Leuten können in wirklich sehr guten Restaurants zum landesweit einheitlichen Preis von 2,60€ ein komplettes Menü incl. Brot und Wasser verspeisen, die Unis sind riesig und letztlich für jeden zugänglich. Doch dafür sind sie eben auch nicht so gut, die Licence-Kurse sind Veranstaltungen für 40 Leute, die sich von einem Dozenten oder einer Dozentin ins Heft diktieren lassen, brav ihre Hausaufgaben machen und am Ende des Semesters ein Examen schreiben.

Mir scheint, als wäre der berühmte "Reformstau" hier in Frankreich noch viel größer als in Deutschland. Auch scheint der "alte" Widerspruch von rechts und links hier deutlich schärfer und deutlich unüberwindbarer zu sein als bei uns in Deutschland (mag sein, dass es daran liegt, dass sich bei uns eine rot-grüne Regierung mit den notwendigen Reformen abmüht und deshalb zumindest die parteipolitisch organisierte Linke die schwere Kost der Realpolitik mühsam lernen muss, während man in Frankreich als Linker getrost auf die semifaschistoide Regierung schimpfen kann und sich den Traum eines Versorgungsstaates aufrecht erhält. Die Zeichen sind überall: An der Uni ist überall groß plakatiert "Contre le liberalime", es wird zu Solidaritätsmärschen für irgendwelche verschollenen Revolutionsführer mit Rastalocken aufgerufen und mitten im Haupteingang steht - neben einigen Promotion-Leutchen, die Produktproben oder kostenlose Studierendenzeitungen verteilen - ein Kiosk einer Befreiungsorganisation für Palästina, die ohne größere Probleme Israel als faschistischen Staat bezeichnen dürfen.

Die Rechte nehme ich in meinem derzeitigen Umfeld nicht so wahr, was daran liegen mag, dass ich mich mit der Uni und den Theatern in klassischerweise linkem Umfeld bewege, doch in den Zeitungen wird schon klar, dass die Regierung mit ebensogroßer Deutlichkeit reagiert.

Ich bin sehr gespannt, ob sich die finanzielle Not einerseits, die politische Situation andererseits in irgend einer Weise in den künstlerischen Arbeiten, die ich sehe, ausdrücken werden. Bislang habe ich zwei Abende gesehen, die meines Erachtens erstaunlich naiv mit den aktuellen Anlässen umgegangen sind:

Im Theatre Ouvert, dem Centre Dramatique Natonal de Création habe ich eine vom Autor selbst inszenierte Uraufführung gesehen: "Eddy, F. de Pute" (Eddy, der Hurensohn) von Jérôme Robart. Die sehr monströs-krasse Inszenierung dieser freien Bearbeitung des Ödipus-Stoffes versuchte, eine Art schicksalhafte Verknüpfung von monströsen Ereignissen im Leben einer Familie von heute darzustellen. Schattenhaft und ohne große Chance wirkten die Figuren, die entdecken mussten, dass Ihr Vater ein Freier, Ihre Mutter eine Hure und sie selbst nicht mehr als die Ausführer, die Fortsetzung ihrer Eltern sind. Der Sohn findet schließlich die Mutter und schläft ohne es zu wissen mit Ihr, die Tochter wird von einem Freier der Mutter vergewaltigt, der 15 Jahre auf sie gewartet hat und mit der Erkenntnis, dass er das getan hat, nicht umgehen kann und sich die Augen aussticht. Der Sohn tötet bewusst und aus blankem Hass, aus blanker Verzweiflung den Vater und kehrt schließlich als Liebhaber zu seiner Mutter zurück.

Leider war die Inszenierung, ohne, dass man das hätte sinnvoll einordnen können, überladen mit Gewalt, Lärm und Sex, es war eine einzige Orgie eines verletzten Menschen, der sich dem Schicksal ausgeliefert fühlt. Dabei ließ sich jedoch weder eine Haltung zu den Figuren herauslesen noch eine Haltung zu den Umständen, in denen sie sich befinden. Der krasse Hyperrealismus der Inszenierung illustrierte noch die konventionell-dramatische Form des Textes. Man blieb seltsam unbefriedigt zurück.

Im Anschluss an diesen Abend wurde - anstatt die Not der KünstlerInnen wirklich zu erläutern - ein Text von Victor Hugo verlesen, der 1848 vor der franz. Nationalversammlung eine flammende Rede zur Finanzierung der Kunst und der Wissenschaften gehalten hat. Die wie reflexhaft wirkende Protesthaltung gegenüber einem allmächtig wirkenden Staat passte hervorragend zur Massivität, die das Schicksal im Stück gespielt hatte. Mir blieb jedoch der bittere Nachgeschmack übrig, dass diese Haltung gegenüber den "Umständen" dem Staat gerade eine Machtposition zuspielt, die er in einer Demokratie eigentlich gar nicht hat. Der Einfluss, den jeder Bürger und jede Bürgerin auf Ihren Staat hat wurde völlig ignoriert. In der Formel vom schicksalhaften Weltenende, verordnet von einer rohen und ökonomistischen Regierung und verkörpert durch die Umgewöhnung der KünstlerInnen in Frankreich manifestierte sich eine absulute Abwehr gegenüber jedweder Verhandlung über Veränderung.

Die zweite Arbeit, die ich gesehen habe war ein Abschnitt einer längeren Serie: Odelie Darbelley und Michel Jacquelin haben mit "À l'ombre des Pinceaux en Fleurs" den zweiten Teil einer Reihe von Theaterabenden über zeitgenössische Kunst gemacht. Handwerklich sehr gut und wirklich sehr, sehr witzig zogen sie die Attitüden und Spießigkeiten des zeitgenössischen Kunstdiskurses durch den Kakao, "objets trouvés", abstrakte Kunst, minimal Art, Performances mit massiver Materialität und der Arbeit mit Fleisch, Ekel, ..... sowie Videoinstallationen wurden mit einem liebenswürdigen Blick "von innen" als oftmals relativ reflexhaftes Abarbeiten von künstlerischen Floskeln enttarnt.

Überhaupt nicht dazu passen wollte der groß aufgebaute Protesttisch und die Großen Plakate über dem Eingang. Die kritische Haltung gegenüber einer selbstverliebten, selbstreferentiellen Kunstszene blieb völlig in der Luft hängen angesichts dessen, dass gerade bei so einer Aufführung ohne differentiertere Betrachtung für eben diese Kunstszene eine weitere Dauerallimentation gefordert wurde. Mir erscheint dieser Blickwinkel - auch angesichts des Publikums, das beide Vorstellungen besuchte und von Kleidungsstil und Benehmen her weder arm noch ungebildet aussah - fast schon zynisch. In einem staatlichen System, welches kaum mehr funktionsfähig ist, welches an den Ärmsten der Armen sparen muss, weil es sonst aufhört zu funktionieren sonnt sich in meinen Augen hier eine Elite in ihrem eigenen Schein und gefällt sich in ihrem Leid ganz gut.

Ihr seht, meine Gedanken sind derzeit sehr blasphemisch. Bis zu einem gewissen Maße kannte ich das ja schon von München, aber hier scheint mir die Lage noch verfahrener, noch krasser zu sein. Ich bin gespannt, wie sich diese Diskussionen weiter entwickeln werden. Und ich werde ganz frech weiterhin die vielen Vorteile, die ein solches sehr staatlich-zentralistisches System hat, nutzen: billiges, gutes Studentenessen, kostenlose Jugendkarten für die kleinen Theater und eine bunte, reichhaltige Theater- und Kunstszene. Mal sehen, wann mich auch der Teufel des schlechten Gewissens einholt. Wahrscheinlich spätestens beim 2. Europäischen Sozialforum , welches im November in St-Denis, also in meiner Unistadt, stattfindet und welches all diese Fragen sicherlich weiterhin aufflammen lässt.

Bis bald und mit herzlichen Grüßen an alle

Euer

Florian

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Start meiner Berichte als Weblog
Hallo liebe Mit-LeserInnen,

nachdem ich so einen modernen Vater habe bin ich seinem wohlweislichen Rat gefolgt und habe mich entschlossen, meine Paris-Berichte in einem Weblog abzulegen. Das heißt sie sind öffentlich zugänglich und jede/r, der oder die möchte kann Kommentare verfassen. Der Anbieter, bei dem ich diesen Weblog hoste (www.blogger.de) arbeitet mit einer Open-Source-Software und ist nichtkommerziell, so dass im Gegensatz zu Yahoo auch die Werbung wegfällt. Einziger Nachteil - jede(r) von Euch muss selbst gucken, ob ich was neues geschrieben habe. Wer möchte, kann den log aber auch abonnieren und bekommt dann E-Mail-Benachrichtigungen, wenn etwas geändert wurde.

Viel Spaß wünscht Euch

Florian

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