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Samstag, 1. November 2003
No 03 - 01/11/2003 - Die spinnen, die Pariser!
lemonmuc, 14:15h
Werte Freundinnen und Freunde,
ich bin untröstlich, aber es muss sein: Es folgt ein politisch völlig unkorrekter Bericht. Ich weiß, all Ihr kunstbegeisterten und kulturbeflissenen DenkerInnen sehnt Euch nach weiteren Berichten aus dem Theater, ich hätte da auch einiges zu schreiben - aber heute, jetzt, genau einen Monat nach meiner Ankunft in dieser Stadt, heute ist die Analyse der Alltagsverichtungen dran.
Die spinnen die Pariser. Anders kann man es nicht formulieren. Diese Stadt ist ein einziges Labyrinth aus sehr engen Tunnels, Treppen und Räumen, in denen man sehr, sehr teure Getränke konsumieren kann. Eine reglementierte, bürokratische, etatistische Verwaltungorgie, bei der mit Sperren, Einlasskontrollen, Bewerbungsmodalitäten, Passbildern und langen Schlangen vor verschiedenen Schaltern Herrschaftsbereiche voneinander getrennt und Grenzen inszeniert und stabilisiert werden. Allerdings muss man den Menschen die diese Stadt bevölkern eins lassen: Sie scheinen sich prächtig damit arrangiert zu haben. Denn vom Revolutionsgeist vergangener Jahrhunderte ist nicht viel zu spühren - und trotz ihrer beachtlichen kulturellen, nationalen und sozialen Diversität nehmen die Pariserinnen und Pariser all diese Dinge mit einer Gelassenheit hin, die bewundernswert ist. Auf Metro-Bahnsteigen voller sardienenartig zusammengequetschter Pendler, in stundenlangen Warteschlangen vor Bibliothekseingängen, bei trotz aller Bürokratie nie mit den angeschlagenen Prognosen in Übereinstimmung zu bringenden Öffnungszeiten: Niemand murrt. Es entsteht im ersten Moment ein überraschter Gesichtsausdruck, leise wird in die Runde eine Frage wie "Ach, das ist die Schlange?" gemurmelt - und dann begibt man sich stumm in sein Schicksal, liest dabei Zeitung, schreibt SMS oder ruht sich aus.
Um meiner akademischen Profession genüge zu tun, lasst Euch berichten vom Wesen der französischen Nationalbibliothek "Francois Mitterand": Ein monumentales Bauwerk, das wohl in der Fachwelt gemeinhin als misslungen gilt und (laut Dumont Kunstführer) von der Süddeutschen Zeitung als "Schmarrn" tituliert wurde. Man stelle sich vier L-förmige Türme aus Glas vor, die zu einander so gestellt sind, dass sie ein Rechteck ergeben. Die Fassaden sind völlig plan und ausschließlich aus Glas und Metall, so dass man sich verstellen könnte, dass es sich um einen lichtdurchfluteten Kristallpalast handeln könnte (so war es wohl auch gedacht). Sinnigerweise ist jedoch in diesen Türmen nahezu der gesamte Bestand an Büchern aufbewahrt, deren Licht- und Temperaturempflindlichkeit den nachträglichen Einbau von hölzernen Wandmodulen nötig machte. Der Glaspalast sieht jetzt aus, als hätte ihn von innen jemand mit Pappkarton ausgekleidet. Stumpf und öde verbreitet er eine bedrohliche Atmosphäre. Sieht man aus der Nähe genauer hin, so sind in vielen Etagen - dort, wo sich offensichtlich Büros befinden - die Wandmodule teilweise geöffnet, und da sie von innen wohl eher wie eine Art Einbauschrank wahrgenommen werden kann man von außern sehr schön all die Mülltüten, Regenschirme, alten Aktenordner und weiteren Krimskrams besichtigen, der das so stolze Bauwerk in einen großen Mülleimer verwandelt.
Als kleiner, armer Benutzer ist es nun aber nicht möglich, einfach in einen dieser Türme zu gehen - man besteigt zunächst einen riesigen, völlig schnörkellosen Holzsockel, der das gemeinsame Fundament der Türme bildet. Hat man diese (bei Regen recht rutschige und wegen fast völlig fehlenden Geländern und steiler Anordnung lebensgefährlichte) Hürde überwunden, findet man sich auf einem menschenverachtend großartigen Platz wieder, der sich in der Mitte zu einem Fußballfeldgroßen Loch öffnet, in dessen Tiefe sich ein wunderschöner, leider jedoch unzugänglicher waldartiger Garten befindet. Völlig eingeschüchtert folgt man den Hinweisschildern zu einem der Eingänge und findet sich auf einem relativ steilen Rollband wieder, welches einen innerhalb eines ebenfalls übermenschlich großen Metallbalkens in dieses Loch hinein führt. Natürlich ist auch dieses Rollband bei Regen ein nahezu unüberwindbares Hindernis, und nicht umsonst werden alte Menschen und RollstuhlfahrerInnen inzwischen per angeklebtem Zettel zu einem Hintergrundausgang gelotst.
Sollte man es lebend und ohne größere Verletzungen bis zur Eingangstür geschafft haben, so erwartet einen eine Sicherheitsschleuse. Überhaupt erinnert einen der gesamte Eingang mehr an einen Flughafen als an einen Ort der Lektüre und der Musen. Nun denn, dem aufkeimenden Terrorismus muss Genüge getan werden.
Bleibt also nun der Versuch, einen der wunderbar durchnummerierten und nach Fächern sortierten Lesesäle zu betreten. Doch das ist so einfach nicht: Der Erwerb eine Jahreskarte für den allgemein zugänglichen Bereich ist recht einfach. Zwar muss man auch dafür zunächst zu einem Spezialschalter für ermäßigte Jahreskarten, bevor man an der Kasse zahlen kann, doch an diese Klassifikation und die damit verbundenen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (5 offene Schalter für zu dieser Zeit zwei Benutzer) hat man sich in Paris längst gewöhnt. Schwierig wird es allerdings, wenn man - ob eventueller Forschungsvorhaben, eigentlich gerne gleich den höheren Beitrag mit Zugang zur gesamten Bibliothek inklusive Bestellberechtigung aus dem Magazin hätte. Nun reicht aber der (immerhin doppelt so hohe) Preis offensichtlich nicht aus, um diesem Bereich für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen den entsprechenden Wert zuzuweisen - man kann diesen teureren Pass nur erwerben, wenn man vorher zum LeserInnen-Beratungsservice geht (den man sich von der Organisation wie das Kreisverwaltungsreferat inklusive Nummernziehen - falsch, Nummer an einem Schalter erbitten - und Büroverschlägen denken muss), diesem seine Bibliographie zur Prüfung vorlegt (schriftlich!) und von diesem Service bestätigt bekommt, dass man tatsächlich das ganze Jahr über regelmäßigen Zugang zu diesem Magazin benötigt. Nun ist es aber nicht so, dass für gerade in Abschlussarbeit befindliche Studierende diese Genemigung einfach ausgestellt würde, nein! Wenn man nämlich zu wenige seltene Bücher in seiner Bibliographie hat, dann erhält man nur die Berechtigung, diesen Bereich im Jahr 15 Mal zu betreten - den Rest der Zeit hat man im gemeinen Volkslesesaal (der natürlich wie alles in dieser Wahnsinnsstadt völlig überfülllt und mit einer Warteschlange inklusive Sicherheitsbeamtin ausgestattet ist) zu verbringen.
Hat man sich dann auf Grund dieser künstlich aufrechterhaltenen Knappheit der Ressouce Magazin schlicht für einen Normalbenutzerausweis entschieden und an der Kasse seine Gebühren brav entrichtet, ist man der Beschilderung in ein System von Aufzügen ohne korrespondierende Treppen gefolgt, die einen in irgendeinen Winkel des Hauses in den Lesesaal bringen - so wandelt sich mit einem Mal das Bild. Denn in den Lesesaal kommt man zwar nur mit Hilfe eines Drehkreuzes - doch darf man, was in Deutschland undenkbar wäre - seinen Mantel, seinen Rucksack, eigene Bücher etc. völlig ohne Kontrolle hineinnehmen. Und so wird dann das Vergnügen, auf diesen riesigen Sesseln zu sitzen, die selbst mir (192 cm!) das Gefühl vermitteln, ein kleines Kind zu sein, und der Genuss einer wirklich gut sortierten Präsenzabteilung doch noch spührbar. Aber so sind sie eben, die Pariser. Man muss wohl lernen, es ähnlich wie sie zu ertragen. Hinzunehmen. Und dabei fröhlich zu sein.
Mehr Berichte aus dieser Metropole der real existierenden Bürokratenoligarchie in Bälde
Euer Florian
ich bin untröstlich, aber es muss sein: Es folgt ein politisch völlig unkorrekter Bericht. Ich weiß, all Ihr kunstbegeisterten und kulturbeflissenen DenkerInnen sehnt Euch nach weiteren Berichten aus dem Theater, ich hätte da auch einiges zu schreiben - aber heute, jetzt, genau einen Monat nach meiner Ankunft in dieser Stadt, heute ist die Analyse der Alltagsverichtungen dran.
Die spinnen die Pariser. Anders kann man es nicht formulieren. Diese Stadt ist ein einziges Labyrinth aus sehr engen Tunnels, Treppen und Räumen, in denen man sehr, sehr teure Getränke konsumieren kann. Eine reglementierte, bürokratische, etatistische Verwaltungorgie, bei der mit Sperren, Einlasskontrollen, Bewerbungsmodalitäten, Passbildern und langen Schlangen vor verschiedenen Schaltern Herrschaftsbereiche voneinander getrennt und Grenzen inszeniert und stabilisiert werden. Allerdings muss man den Menschen die diese Stadt bevölkern eins lassen: Sie scheinen sich prächtig damit arrangiert zu haben. Denn vom Revolutionsgeist vergangener Jahrhunderte ist nicht viel zu spühren - und trotz ihrer beachtlichen kulturellen, nationalen und sozialen Diversität nehmen die Pariserinnen und Pariser all diese Dinge mit einer Gelassenheit hin, die bewundernswert ist. Auf Metro-Bahnsteigen voller sardienenartig zusammengequetschter Pendler, in stundenlangen Warteschlangen vor Bibliothekseingängen, bei trotz aller Bürokratie nie mit den angeschlagenen Prognosen in Übereinstimmung zu bringenden Öffnungszeiten: Niemand murrt. Es entsteht im ersten Moment ein überraschter Gesichtsausdruck, leise wird in die Runde eine Frage wie "Ach, das ist die Schlange?" gemurmelt - und dann begibt man sich stumm in sein Schicksal, liest dabei Zeitung, schreibt SMS oder ruht sich aus.
Um meiner akademischen Profession genüge zu tun, lasst Euch berichten vom Wesen der französischen Nationalbibliothek "Francois Mitterand": Ein monumentales Bauwerk, das wohl in der Fachwelt gemeinhin als misslungen gilt und (laut Dumont Kunstführer) von der Süddeutschen Zeitung als "Schmarrn" tituliert wurde. Man stelle sich vier L-förmige Türme aus Glas vor, die zu einander so gestellt sind, dass sie ein Rechteck ergeben. Die Fassaden sind völlig plan und ausschließlich aus Glas und Metall, so dass man sich verstellen könnte, dass es sich um einen lichtdurchfluteten Kristallpalast handeln könnte (so war es wohl auch gedacht). Sinnigerweise ist jedoch in diesen Türmen nahezu der gesamte Bestand an Büchern aufbewahrt, deren Licht- und Temperaturempflindlichkeit den nachträglichen Einbau von hölzernen Wandmodulen nötig machte. Der Glaspalast sieht jetzt aus, als hätte ihn von innen jemand mit Pappkarton ausgekleidet. Stumpf und öde verbreitet er eine bedrohliche Atmosphäre. Sieht man aus der Nähe genauer hin, so sind in vielen Etagen - dort, wo sich offensichtlich Büros befinden - die Wandmodule teilweise geöffnet, und da sie von innen wohl eher wie eine Art Einbauschrank wahrgenommen werden kann man von außern sehr schön all die Mülltüten, Regenschirme, alten Aktenordner und weiteren Krimskrams besichtigen, der das so stolze Bauwerk in einen großen Mülleimer verwandelt.
Als kleiner, armer Benutzer ist es nun aber nicht möglich, einfach in einen dieser Türme zu gehen - man besteigt zunächst einen riesigen, völlig schnörkellosen Holzsockel, der das gemeinsame Fundament der Türme bildet. Hat man diese (bei Regen recht rutschige und wegen fast völlig fehlenden Geländern und steiler Anordnung lebensgefährlichte) Hürde überwunden, findet man sich auf einem menschenverachtend großartigen Platz wieder, der sich in der Mitte zu einem Fußballfeldgroßen Loch öffnet, in dessen Tiefe sich ein wunderschöner, leider jedoch unzugänglicher waldartiger Garten befindet. Völlig eingeschüchtert folgt man den Hinweisschildern zu einem der Eingänge und findet sich auf einem relativ steilen Rollband wieder, welches einen innerhalb eines ebenfalls übermenschlich großen Metallbalkens in dieses Loch hinein führt. Natürlich ist auch dieses Rollband bei Regen ein nahezu unüberwindbares Hindernis, und nicht umsonst werden alte Menschen und RollstuhlfahrerInnen inzwischen per angeklebtem Zettel zu einem Hintergrundausgang gelotst.
Sollte man es lebend und ohne größere Verletzungen bis zur Eingangstür geschafft haben, so erwartet einen eine Sicherheitsschleuse. Überhaupt erinnert einen der gesamte Eingang mehr an einen Flughafen als an einen Ort der Lektüre und der Musen. Nun denn, dem aufkeimenden Terrorismus muss Genüge getan werden.
Bleibt also nun der Versuch, einen der wunderbar durchnummerierten und nach Fächern sortierten Lesesäle zu betreten. Doch das ist so einfach nicht: Der Erwerb eine Jahreskarte für den allgemein zugänglichen Bereich ist recht einfach. Zwar muss man auch dafür zunächst zu einem Spezialschalter für ermäßigte Jahreskarten, bevor man an der Kasse zahlen kann, doch an diese Klassifikation und die damit verbundenen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (5 offene Schalter für zu dieser Zeit zwei Benutzer) hat man sich in Paris längst gewöhnt. Schwierig wird es allerdings, wenn man - ob eventueller Forschungsvorhaben, eigentlich gerne gleich den höheren Beitrag mit Zugang zur gesamten Bibliothek inklusive Bestellberechtigung aus dem Magazin hätte. Nun reicht aber der (immerhin doppelt so hohe) Preis offensichtlich nicht aus, um diesem Bereich für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen den entsprechenden Wert zuzuweisen - man kann diesen teureren Pass nur erwerben, wenn man vorher zum LeserInnen-Beratungsservice geht (den man sich von der Organisation wie das Kreisverwaltungsreferat inklusive Nummernziehen - falsch, Nummer an einem Schalter erbitten - und Büroverschlägen denken muss), diesem seine Bibliographie zur Prüfung vorlegt (schriftlich!) und von diesem Service bestätigt bekommt, dass man tatsächlich das ganze Jahr über regelmäßigen Zugang zu diesem Magazin benötigt. Nun ist es aber nicht so, dass für gerade in Abschlussarbeit befindliche Studierende diese Genemigung einfach ausgestellt würde, nein! Wenn man nämlich zu wenige seltene Bücher in seiner Bibliographie hat, dann erhält man nur die Berechtigung, diesen Bereich im Jahr 15 Mal zu betreten - den Rest der Zeit hat man im gemeinen Volkslesesaal (der natürlich wie alles in dieser Wahnsinnsstadt völlig überfülllt und mit einer Warteschlange inklusive Sicherheitsbeamtin ausgestattet ist) zu verbringen.
Hat man sich dann auf Grund dieser künstlich aufrechterhaltenen Knappheit der Ressouce Magazin schlicht für einen Normalbenutzerausweis entschieden und an der Kasse seine Gebühren brav entrichtet, ist man der Beschilderung in ein System von Aufzügen ohne korrespondierende Treppen gefolgt, die einen in irgendeinen Winkel des Hauses in den Lesesaal bringen - so wandelt sich mit einem Mal das Bild. Denn in den Lesesaal kommt man zwar nur mit Hilfe eines Drehkreuzes - doch darf man, was in Deutschland undenkbar wäre - seinen Mantel, seinen Rucksack, eigene Bücher etc. völlig ohne Kontrolle hineinnehmen. Und so wird dann das Vergnügen, auf diesen riesigen Sesseln zu sitzen, die selbst mir (192 cm!) das Gefühl vermitteln, ein kleines Kind zu sein, und der Genuss einer wirklich gut sortierten Präsenzabteilung doch noch spührbar. Aber so sind sie eben, die Pariser. Man muss wohl lernen, es ähnlich wie sie zu ertragen. Hinzunehmen. Und dabei fröhlich zu sein.
Mehr Berichte aus dieser Metropole der real existierenden Bürokratenoligarchie in Bälde
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