Mittwoch, 3. Dezember 2003
Protestkultur
lemonmuc, 16:28h
Liebe Freundinnen und Freunde, hier eine Mail, die ich auf der Mailingliste der Grünen Jugend gepostet habe und die ich Euch nicht vorenthalten möchte, weil es sehr viel um meine Erfahrungen hier in Frankreich geht:
„Der bislang vermittelte sehr positive Eindruck bezüglich der
tatsächlich sehr ausgeprägten Protestkultur hier in Frankreich scheint
mir deutlich zu optimistisch. Es ist zwar richtig, dass sich auf
vielen Ebenen relativ deutlich sichtbar Widerstand gegen Projekte der
Regierung, gegen den sog. Neoliberalismus bzw. Kapitalismus oder
auch - wie im Falle der Intermittents, also der gelegentlich
Beschäftigten im Theaterbereich - einen Raubbau an der Kultur
formiert. Dieser Widerstand findet jedoch unter völlig anderen
Vorzeichen statt als bei uns in Deutschland: Es gibt große
Unterschiede zwischen den beiden Ländern, sowohl was die aktuelle
politische Lage anbelangt als auch längerfristig gewachsene
Traditionen im politischen und kulturellen System betreffend.
Ich möchte mit ersteren beginnen: Frankreichs zentralistische
Ausrichtung, die im Vergleich zur deutschen Geschichte relativ
bruchlose Kontinuität vieler Institutionen, oft seit dem späten 18.
Jahrhundert und über die Grenzen der verschiedenen Verfassungsentwürfe
und Regime hinweg - seien es die Elitebildungsanstalten wie die
"Grands Ecoles" oder die die "Ecoles Normales Superieures", seien es
die Kultur beschränkende und kontrollierende Einrichtungen wie die
"Academie Francaise" -, der alle Gesellschaftsschichten durchdringende
und sehr realitätsferne Glaube daran, dass im französischen Staat
"Liberté, Egalité, Fraternité" verwirklicht seien und die damit
sicherlich verbundene Ablehnung jeglicher Fakten, die diese
Nationalkonstruktion bedrohen - all diese Faktoren und sicherlich eine
Reihe weiterer, sehr "weicher", kultureller Faktoren führen meinem
Eindruck nach dazu, dass es im Vergleich zu Deutschland in fast allen
Bereichen des öffentlichen Lebens sehr viel festere Strukturen und
Hierarchien gibt. Das fängt mit der sehr klar gegliederten
geographischen Aufteilung an, die das Land in eine mehr oder minder
unbedeutende Provinz, eine große No-Go-Area namens "Banlieu" und die
metropolitane Spitze von Paris segregiert, das setzt sich fort in
einer sehr klaren und fast allen Franzosen geläufigen Aufteilung der
höheren Bildungseinrichtungen in profane Universitäten (an denen die
leider vom öffentlichen Leben fast abgeschnittene Studierenden und
Lehrenden mit sehr egalitären Einrichtungen wie billiger und guter
Mensa abgespeist werden), höhere Lehranstalten und wahre
Eliteschmieden (es gibt kaum jemanden in Frankreich, der Karriere
macht aber nicht irgendeine dieser Ausbildungsgänge absolviert hat),
in einem Kultursystem, bei dem der Staat unglaubliche Summen in die
Produktion von "hoher Kunst" investiert... Die Reihe ließe sich
beliebig fortsetzen, egal ob man die Aufteilung des Mediensektors
anschaut, die Art und Weise, wie Prof und Studi miteinander umgehen,
etc. Ich hoffe, dieser subjektive Eindruck reicht erst Mal, um zu
verstehen, was ich meine.
Diese starke Segregation betrifft nun auch das politische System.
Dieses kann zwar mit einer erheblich weiteren Spanne von Meinungen
aufwarten - im Vergleich zu dem, was hier an
marxistisch-leninistischen, revisionistischen, kommunitaristischen,
liberalistischen, aristokratischen .... Positionen öffentlich
vorgetragen wird und institutionell repräsentiert ist kommt einem die
politische Landschaft in Deutschland langweilig und beinahe konsensual
vor -, doch andererseits stabilisieren sich diese gegeneinander
gerichteten Kräfte zu einem insgesamt sehr schwerfälligen und
reformunwilligen Gesamtsystem.
In diesem Licht betrachtet erscheint mir bei die tatsächlich zu
beobachtende Streit- und Protestkultur wie ein grotesker Tanz auf den
Mauern eines archaisch-aristokratischen Systems. Die Linke - und damit
meine ich jetzt mal den ganzen Schwung von den KommunistInnen über die
SozialistInnenen bis zu den Ökos und den GlobalisierungsgegnerInnen -
hat sich in diesem System relativ ungemütlich (weil permanent
protestierend) aber durchaus stabil und selbsterhaltend eingerichtet.
Letztlich werden die hier wirklich alles erstickenden Bürokratismen,
jedoch auch die hanebüchende Ökobilanz dieses Landes und die jede
private Regung erstickende Gleichmacherei, verknüpft mit einem sehr
stabilen System sich im Hintergrund permanent reproduzierender
Eliten - werden all diese wirklich hemmenden Zustände von allen
akzeptiert.
Speziell die Bildungsproteste erscheinen mir durch die Sicht von außen
als unglaublich spießig, eigentlich sogar archaisch. Denn das System,
das hier verteidigt wird, zeichnet sich durch alles aus, was man von
einem Bildungssystem nicht möchte: Miserable soziale
Migrationsmöglichkeiten, völlig didaktikfreie Kultur des gesprochenen
Wortes, sich gegenseitig kaum wahrnehmende Einiglung innerhalb der
einzelnen Disziplinen, Verschulung - und bei alldem ökonomische
Ineffizienz, die sich in steigenden Defiziten äußert. Die Argumente
mit denen hier das System verteidigt wird sind seltsamerweise die
selben wie die in Deutschland, obwohl die geplanten Veränderungen
exakt konträr sind: Während es in Deutschland beim Bologna-Prozess um
die Aufteilung extrem langer und bislang sehr frei gestalteter
Abschlüsse geht, verteidigen die Franzosen ihr extrem partagiertes
System, das schon ein Jahre nach dem Abi den ersten Abschluss verleiht
(DEUG), dann noch zwei höhere Abschlüsse (Licence Abi+3 Jahre,
Maîtrise Abi+4 Jahre) und vor den Doktor noch eine Art Vordokter
schiebt (DEA, Abi +5 Jahre). In beiden Fällen heißt das Argument
seltsamerweise "Bewahrung des unverwechselbaren und freien Charakters
der Universität - Bildung ist keine Ware". Und der Kampf gegen mehr
Konkurrenz (egal ob zwischen den französischen Universitäten oder
innerhalb Europas) verdeckt, dass das jetzige System so inegalitär ist
wie man es sich nur vorstellen kann und zudem diese Ungleichheit
hinter einem intransparenten System versteckt. Die Frage ist, ob nicht
ein klarer definierter, nach außen offener Leistungswettbewerb,
verbunden mit gezielten Fördermaßnahmen für Kinder bildungsferner
Familien nicht deutlich mehr Gleichheit schaffen würde als ein
angeblich egalitäres System, das leider nicht berücksichtigt, dass man
als Einwanderersprössling weder die finanziellen noch die kulturellen
Voraussetzungen mitbringt um die langwierige Vorbereitungszeit und die
diffizilen Auswahlverfahren durchzustehen, die den Weg in die
Eliteschulen ebnen.
Der distanzierte Blick hier auf das französische System lässt bei mir
eigentlich kaum eine Begeisterung für die Protestkultur entstehen.
Vielmehr zweifle ich langsam auch an den einfachen Lösungen, die in
der deutschen Bildungsdiskussion lanciert werden.“
„Der bislang vermittelte sehr positive Eindruck bezüglich der
tatsächlich sehr ausgeprägten Protestkultur hier in Frankreich scheint
mir deutlich zu optimistisch. Es ist zwar richtig, dass sich auf
vielen Ebenen relativ deutlich sichtbar Widerstand gegen Projekte der
Regierung, gegen den sog. Neoliberalismus bzw. Kapitalismus oder
auch - wie im Falle der Intermittents, also der gelegentlich
Beschäftigten im Theaterbereich - einen Raubbau an der Kultur
formiert. Dieser Widerstand findet jedoch unter völlig anderen
Vorzeichen statt als bei uns in Deutschland: Es gibt große
Unterschiede zwischen den beiden Ländern, sowohl was die aktuelle
politische Lage anbelangt als auch längerfristig gewachsene
Traditionen im politischen und kulturellen System betreffend.
Ich möchte mit ersteren beginnen: Frankreichs zentralistische
Ausrichtung, die im Vergleich zur deutschen Geschichte relativ
bruchlose Kontinuität vieler Institutionen, oft seit dem späten 18.
Jahrhundert und über die Grenzen der verschiedenen Verfassungsentwürfe
und Regime hinweg - seien es die Elitebildungsanstalten wie die
"Grands Ecoles" oder die die "Ecoles Normales Superieures", seien es
die Kultur beschränkende und kontrollierende Einrichtungen wie die
"Academie Francaise" -, der alle Gesellschaftsschichten durchdringende
und sehr realitätsferne Glaube daran, dass im französischen Staat
"Liberté, Egalité, Fraternité" verwirklicht seien und die damit
sicherlich verbundene Ablehnung jeglicher Fakten, die diese
Nationalkonstruktion bedrohen - all diese Faktoren und sicherlich eine
Reihe weiterer, sehr "weicher", kultureller Faktoren führen meinem
Eindruck nach dazu, dass es im Vergleich zu Deutschland in fast allen
Bereichen des öffentlichen Lebens sehr viel festere Strukturen und
Hierarchien gibt. Das fängt mit der sehr klar gegliederten
geographischen Aufteilung an, die das Land in eine mehr oder minder
unbedeutende Provinz, eine große No-Go-Area namens "Banlieu" und die
metropolitane Spitze von Paris segregiert, das setzt sich fort in
einer sehr klaren und fast allen Franzosen geläufigen Aufteilung der
höheren Bildungseinrichtungen in profane Universitäten (an denen die
leider vom öffentlichen Leben fast abgeschnittene Studierenden und
Lehrenden mit sehr egalitären Einrichtungen wie billiger und guter
Mensa abgespeist werden), höhere Lehranstalten und wahre
Eliteschmieden (es gibt kaum jemanden in Frankreich, der Karriere
macht aber nicht irgendeine dieser Ausbildungsgänge absolviert hat),
in einem Kultursystem, bei dem der Staat unglaubliche Summen in die
Produktion von "hoher Kunst" investiert... Die Reihe ließe sich
beliebig fortsetzen, egal ob man die Aufteilung des Mediensektors
anschaut, die Art und Weise, wie Prof und Studi miteinander umgehen,
etc. Ich hoffe, dieser subjektive Eindruck reicht erst Mal, um zu
verstehen, was ich meine.
Diese starke Segregation betrifft nun auch das politische System.
Dieses kann zwar mit einer erheblich weiteren Spanne von Meinungen
aufwarten - im Vergleich zu dem, was hier an
marxistisch-leninistischen, revisionistischen, kommunitaristischen,
liberalistischen, aristokratischen .... Positionen öffentlich
vorgetragen wird und institutionell repräsentiert ist kommt einem die
politische Landschaft in Deutschland langweilig und beinahe konsensual
vor -, doch andererseits stabilisieren sich diese gegeneinander
gerichteten Kräfte zu einem insgesamt sehr schwerfälligen und
reformunwilligen Gesamtsystem.
In diesem Licht betrachtet erscheint mir bei die tatsächlich zu
beobachtende Streit- und Protestkultur wie ein grotesker Tanz auf den
Mauern eines archaisch-aristokratischen Systems. Die Linke - und damit
meine ich jetzt mal den ganzen Schwung von den KommunistInnen über die
SozialistInnenen bis zu den Ökos und den GlobalisierungsgegnerInnen -
hat sich in diesem System relativ ungemütlich (weil permanent
protestierend) aber durchaus stabil und selbsterhaltend eingerichtet.
Letztlich werden die hier wirklich alles erstickenden Bürokratismen,
jedoch auch die hanebüchende Ökobilanz dieses Landes und die jede
private Regung erstickende Gleichmacherei, verknüpft mit einem sehr
stabilen System sich im Hintergrund permanent reproduzierender
Eliten - werden all diese wirklich hemmenden Zustände von allen
akzeptiert.
Speziell die Bildungsproteste erscheinen mir durch die Sicht von außen
als unglaublich spießig, eigentlich sogar archaisch. Denn das System,
das hier verteidigt wird, zeichnet sich durch alles aus, was man von
einem Bildungssystem nicht möchte: Miserable soziale
Migrationsmöglichkeiten, völlig didaktikfreie Kultur des gesprochenen
Wortes, sich gegenseitig kaum wahrnehmende Einiglung innerhalb der
einzelnen Disziplinen, Verschulung - und bei alldem ökonomische
Ineffizienz, die sich in steigenden Defiziten äußert. Die Argumente
mit denen hier das System verteidigt wird sind seltsamerweise die
selben wie die in Deutschland, obwohl die geplanten Veränderungen
exakt konträr sind: Während es in Deutschland beim Bologna-Prozess um
die Aufteilung extrem langer und bislang sehr frei gestalteter
Abschlüsse geht, verteidigen die Franzosen ihr extrem partagiertes
System, das schon ein Jahre nach dem Abi den ersten Abschluss verleiht
(DEUG), dann noch zwei höhere Abschlüsse (Licence Abi+3 Jahre,
Maîtrise Abi+4 Jahre) und vor den Doktor noch eine Art Vordokter
schiebt (DEA, Abi +5 Jahre). In beiden Fällen heißt das Argument
seltsamerweise "Bewahrung des unverwechselbaren und freien Charakters
der Universität - Bildung ist keine Ware". Und der Kampf gegen mehr
Konkurrenz (egal ob zwischen den französischen Universitäten oder
innerhalb Europas) verdeckt, dass das jetzige System so inegalitär ist
wie man es sich nur vorstellen kann und zudem diese Ungleichheit
hinter einem intransparenten System versteckt. Die Frage ist, ob nicht
ein klarer definierter, nach außen offener Leistungswettbewerb,
verbunden mit gezielten Fördermaßnahmen für Kinder bildungsferner
Familien nicht deutlich mehr Gleichheit schaffen würde als ein
angeblich egalitäres System, das leider nicht berücksichtigt, dass man
als Einwanderersprössling weder die finanziellen noch die kulturellen
Voraussetzungen mitbringt um die langwierige Vorbereitungszeit und die
diffizilen Auswahlverfahren durchzustehen, die den Weg in die
Eliteschulen ebnen.
Der distanzierte Blick hier auf das französische System lässt bei mir
eigentlich kaum eine Begeisterung für die Protestkultur entstehen.
Vielmehr zweifle ich langsam auch an den einfachen Lösungen, die in
der deutschen Bildungsdiskussion lanciert werden.“
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