Freitag, 7. November 2003
lemonmuc, 19:14h
Werte Freundinnen und Freunde,
bevor ich in wenigen Stunden das Theater Nanterre-Amandiers besuche,
um mir eine zeitgenössische Medea-Version anzusehen möchte ich noch
kurz über die beiden anderen Aufführungen berichten, um gar nicht erst
in Verzug zu geraten mit meinem Versprechen, das, was ich hier sehe,
auch weiterzugeben.
Lasst Euch also berichten von "Faust ou la fête electrique" von
Gertrude Stein im Théâtre de la Villette (Compagnie Les Endimanchés,
Inszenierung und Musik: Alexis Forestier) und von "P. #06 Paris.
Tragedia endogonidia - VI Episode" von Romeo Castellucci im Odéon,
Théâtre de l'Europe aux Atheliers Berhier.
Beide Abende haben viel gemeinsam: Sie beziehen sich beide Texte,
deren kulturelle Bedeutung weit über die jeweilige schriftlich
fixierte Originalversion hinausgeht, deren Handlungsmotive längst
Allgemeingut geworden sind. In einem Fall spreche ich von Faust, im
anderen Fall von biblischen wie antik-griechischen Mythen bzw.
Geschichten (Abraham und Isaak, Oedipus, Jesus Christus). Beide
versuchen, diese alten Motive in abgewandelter Form dafür zu
verwenden, heutige Deutungen zu liefern und so in einem Fall eine
Studie über das postmoderne Subjekt, im anderen Fall eine politische
Tragödie für die heutige Zeit zu konstruieren.
Der Text "Faust ou la fête electrique" variiert und perpetuiert in
immer gleichen, zu Floskeln erstarrten Formulierungen mehrere
abgewandelte Handlungsmotive aus Faust I und II. Faust ist
gelangweilt. Er weiß alles, doch nicht befriedigt ihn. Er hat das
elektrische Licht erfunden und so der Menschheit unglaubliche
Bereicherung gebracht - doch bleibt ihm tiefere Erkenntnis versagt. Im
Unterschied zur Goetheschen Version ist an dieser Stelle aber auch der
Pakt mit Mephisto schon vorbei. Die moralische Verfehlung hat längst
Ihren Reiz verloren.
Mephisto selbst ist machtlos. Er klagt Faust an, ihn betrogen zu
haben, indem er ihm eine Seele versprochen hätte, die er, Faust, gar
nie besessen habe. Faust kann den Triumpf jedoch nicht genießen.
Vielmehr verlangt er mit großer Sehnsucht nach einer Seele, um mit ihr
in die Hölle gehen zu können. Um wenigstens diesen Beweis einer
Echtheit, einer Realität, einer Erkenntnis zu erlangen, tötet er den
Schüler und den Hund, die in seiner Studierstube Unterschlupf gefunden
haben. Das Projekt bleibt erfolglos.
Verwoben ist diese Zustandsbeschreibung des modernen, sinnentleerten
Subjekts mit einer anderen Figur, einer Frauenfigur mit zwei Namen:
"Margarethe Ida und Helèn Annabel". Dieses Wesen, das immer wieder
diese beiden Namen widerholt und dem die Übereinstimmung einer dieser
Identitäten mit sich selbt verweigert wird kommt zu Faust, da es von
einer Viper gebissen wurde. Faust kann jedoch keine Hilfe leisten, und
Margarethe Ida und Helèn Annabel stirbt, erstummt und erstarrt. Die
Inszenierung lässt die Viper in Gestalt eines bürgerlichen
Klischeeehemanns auftauchen und inszeniert den Tod als Weg in ein
trautes Wohnzimmeridyll.
Der Untertitel des Stückes "opéra fait pour être chanté" wird für
Alexis Forestier zum Programm: Er hat das gesammte Stück mit Musik
versehen. Es ist ein Musikversuch, eine Musikverhinderung. An Kurt
Weil erinnernde Instrumentarien ratschen und versuchen, eine
durchgehende Melodie, eine Gesangslinie zu erzeugen - doch scheitern
sie daran. Die immer wieder wiederholten Textzeilen sind kunstvoll
ineinandergewebt als ständiges Rauschen stockender Schallplatten. Die
Anklänge an Kurt Weil, an das Brechtsche Aufklärungstheater, an den
Überzeugungsgeist der Faust-Tragödie, an die Möglichkeit zumindest
einer Erotik, die auch ohne Ziel, ohne Bestimmung bleibt - dieses Netz
an Verweisen spielt sich ab in einem Raum, der vollgestopft ist mit
riesigen Metallteilen, Bögen, Stangen, Stühlen, Tischen - und
ausschließlich mit Glühbirnen erhellt wird. Diese Metallteile
strukturieren den Abend, denn sie befinden sich in ständigen Bewegung
und lassen eine sinnlose Bühnenmaschinerie ablaufen, die die Menschen
nur noch wie einen Nachklang ihrer selbst bestehen lässt.
Leider wirkt diese mechanische Abarbeitung der Prozesse wie ein
Sinnbild für die ganze Arbeit: Sorgsam ausgesuchte Versatzstücke der
Postmoderne, der Subjektkritik werden kunstvoll angeordnet und
abgeschnurrt. Die Poesie, die Wehmut, die Fragilität der Stein-Texte
wird dabei völlig untergraben. Und so bleibt am Ende der etwas
unangenehme Gedanke zurück, ob man nicht doch einfach ein Spiel mit
Klischees der Postmoderne gesehen hat. Eine wirkliche Haltung oder
zumindest eine Not, die Verzweiflung über den Verlust des
Subjektglaubens und des Fortschrittsglaubens wird nicht sichtbar. Es
bleibt ein gutes Handwerksstück. postmodern. und stabil. ungefährlich.
Wie sich die Arbeitsweisen ähneln können und doch der Unterschied
deutlich werden kann: Romeo Castellucci arbeitet in Tragedia
endogonidia ganz ähnlich. Auch er verflicht Motive, Mythen, bekannte
Bilder zu einem Netz von Verweisen. Auch seine Hauptthese scheint zu
sein, dass die eindeutige Sinnstiftung dieser Mythen nicht mehr
funktioniert, und man kann seine diebische Freude daran beobachten,
diese Sinnstiftung zu stören. Doch ist diese Freude an der Arbeit, die
Präzision seiner technischen und inszenatorischen Erfindungen und die
Oppulenz seines immerhin elf-teiligen Opus um die heutigen
Möglichkeiten einer Tragödie so groß, dass man eher das Gefühl hat,
dass hier jemand diese Befreiung von der Eindeutigkeit feiert und
durch eine Vielzahl an Parataxen, Assoziationen und auch Eingriffen in
die Wahrnehmung des Publikums durch schockierende Aktionen eine
Vielzahl an Kurzkommentaren über den Zustand der Welt unterbringt und
einen am Ende des Abends mit einem arbeitenden Kopf und nicht enden
wollenden Ideen nach Hause schickt.
Es bringt fast nichts, die einzelnen Episoden nachzuerzählen, weil
gerade die langsame Ausführung der Prozesse, die unglaubliche
Fähigkeit der DarstellerInnen, mit einer Distanz zu ihren Figuren und
minimalistischen darstellerischen Mitteln die Impulse für all die
Assoziationen zu setzen und gleichzeitig eine musikalische Spannung
aufrechtzuerhalten, die bewundernswert ist, all diese Dinge zum
Gesamteindruck dieses Abends beitragen. Sollte jemand von Euch
Gelegenheit haben, die anderen Episoden zu sehen hat er oder sie ja
Gelegenheit, sich selbst von der Qualität dieser Truppe und der
Vielfalt des entworfenen Zeichenuniversums zu überzeugen.
Das Spektakel um Abraham, der den warnenden Engel nicht sieht und
Isaak versehentlich selbst opfert, um Oedipus, dem nach dem Rätsel der
Sphinx nur drei Autos einfallen, die (in Realitas und aus etwa 30 m
Höhe!!!!!) auf die Bühne fallen und der über diese Idee so ins Grübeln
gerät, dass er seine Mutter, die ihm verzweifelt die Brust bietet gar
nicht sieht und diese zu einer grotesken Masse wird, die rhythmische
Laute ausstößt, um Jesus, der auf einem Auto gekreuzigt wird und drei
Polizisten, die sich in Zitierung einer KZ-Szene gegenseitig mit
Wasser abspritzen, um dann selbst als Herrscher aufzutreten und
staatstragende Märsche abzuhalten, um einen weißten Pferdehintern, der
schwarz wird.... es ist eine brilliante Aufführung im postmodernen
Geist.
bevor ich in wenigen Stunden das Theater Nanterre-Amandiers besuche,
um mir eine zeitgenössische Medea-Version anzusehen möchte ich noch
kurz über die beiden anderen Aufführungen berichten, um gar nicht erst
in Verzug zu geraten mit meinem Versprechen, das, was ich hier sehe,
auch weiterzugeben.
Lasst Euch also berichten von "Faust ou la fête electrique" von
Gertrude Stein im Théâtre de la Villette (Compagnie Les Endimanchés,
Inszenierung und Musik: Alexis Forestier) und von "P. #06 Paris.
Tragedia endogonidia - VI Episode" von Romeo Castellucci im Odéon,
Théâtre de l'Europe aux Atheliers Berhier.
Beide Abende haben viel gemeinsam: Sie beziehen sich beide Texte,
deren kulturelle Bedeutung weit über die jeweilige schriftlich
fixierte Originalversion hinausgeht, deren Handlungsmotive längst
Allgemeingut geworden sind. In einem Fall spreche ich von Faust, im
anderen Fall von biblischen wie antik-griechischen Mythen bzw.
Geschichten (Abraham und Isaak, Oedipus, Jesus Christus). Beide
versuchen, diese alten Motive in abgewandelter Form dafür zu
verwenden, heutige Deutungen zu liefern und so in einem Fall eine
Studie über das postmoderne Subjekt, im anderen Fall eine politische
Tragödie für die heutige Zeit zu konstruieren.
Der Text "Faust ou la fête electrique" variiert und perpetuiert in
immer gleichen, zu Floskeln erstarrten Formulierungen mehrere
abgewandelte Handlungsmotive aus Faust I und II. Faust ist
gelangweilt. Er weiß alles, doch nicht befriedigt ihn. Er hat das
elektrische Licht erfunden und so der Menschheit unglaubliche
Bereicherung gebracht - doch bleibt ihm tiefere Erkenntnis versagt. Im
Unterschied zur Goetheschen Version ist an dieser Stelle aber auch der
Pakt mit Mephisto schon vorbei. Die moralische Verfehlung hat längst
Ihren Reiz verloren.
Mephisto selbst ist machtlos. Er klagt Faust an, ihn betrogen zu
haben, indem er ihm eine Seele versprochen hätte, die er, Faust, gar
nie besessen habe. Faust kann den Triumpf jedoch nicht genießen.
Vielmehr verlangt er mit großer Sehnsucht nach einer Seele, um mit ihr
in die Hölle gehen zu können. Um wenigstens diesen Beweis einer
Echtheit, einer Realität, einer Erkenntnis zu erlangen, tötet er den
Schüler und den Hund, die in seiner Studierstube Unterschlupf gefunden
haben. Das Projekt bleibt erfolglos.
Verwoben ist diese Zustandsbeschreibung des modernen, sinnentleerten
Subjekts mit einer anderen Figur, einer Frauenfigur mit zwei Namen:
"Margarethe Ida und Helèn Annabel". Dieses Wesen, das immer wieder
diese beiden Namen widerholt und dem die Übereinstimmung einer dieser
Identitäten mit sich selbt verweigert wird kommt zu Faust, da es von
einer Viper gebissen wurde. Faust kann jedoch keine Hilfe leisten, und
Margarethe Ida und Helèn Annabel stirbt, erstummt und erstarrt. Die
Inszenierung lässt die Viper in Gestalt eines bürgerlichen
Klischeeehemanns auftauchen und inszeniert den Tod als Weg in ein
trautes Wohnzimmeridyll.
Der Untertitel des Stückes "opéra fait pour être chanté" wird für
Alexis Forestier zum Programm: Er hat das gesammte Stück mit Musik
versehen. Es ist ein Musikversuch, eine Musikverhinderung. An Kurt
Weil erinnernde Instrumentarien ratschen und versuchen, eine
durchgehende Melodie, eine Gesangslinie zu erzeugen - doch scheitern
sie daran. Die immer wieder wiederholten Textzeilen sind kunstvoll
ineinandergewebt als ständiges Rauschen stockender Schallplatten. Die
Anklänge an Kurt Weil, an das Brechtsche Aufklärungstheater, an den
Überzeugungsgeist der Faust-Tragödie, an die Möglichkeit zumindest
einer Erotik, die auch ohne Ziel, ohne Bestimmung bleibt - dieses Netz
an Verweisen spielt sich ab in einem Raum, der vollgestopft ist mit
riesigen Metallteilen, Bögen, Stangen, Stühlen, Tischen - und
ausschließlich mit Glühbirnen erhellt wird. Diese Metallteile
strukturieren den Abend, denn sie befinden sich in ständigen Bewegung
und lassen eine sinnlose Bühnenmaschinerie ablaufen, die die Menschen
nur noch wie einen Nachklang ihrer selbst bestehen lässt.
Leider wirkt diese mechanische Abarbeitung der Prozesse wie ein
Sinnbild für die ganze Arbeit: Sorgsam ausgesuchte Versatzstücke der
Postmoderne, der Subjektkritik werden kunstvoll angeordnet und
abgeschnurrt. Die Poesie, die Wehmut, die Fragilität der Stein-Texte
wird dabei völlig untergraben. Und so bleibt am Ende der etwas
unangenehme Gedanke zurück, ob man nicht doch einfach ein Spiel mit
Klischees der Postmoderne gesehen hat. Eine wirkliche Haltung oder
zumindest eine Not, die Verzweiflung über den Verlust des
Subjektglaubens und des Fortschrittsglaubens wird nicht sichtbar. Es
bleibt ein gutes Handwerksstück. postmodern. und stabil. ungefährlich.
Wie sich die Arbeitsweisen ähneln können und doch der Unterschied
deutlich werden kann: Romeo Castellucci arbeitet in Tragedia
endogonidia ganz ähnlich. Auch er verflicht Motive, Mythen, bekannte
Bilder zu einem Netz von Verweisen. Auch seine Hauptthese scheint zu
sein, dass die eindeutige Sinnstiftung dieser Mythen nicht mehr
funktioniert, und man kann seine diebische Freude daran beobachten,
diese Sinnstiftung zu stören. Doch ist diese Freude an der Arbeit, die
Präzision seiner technischen und inszenatorischen Erfindungen und die
Oppulenz seines immerhin elf-teiligen Opus um die heutigen
Möglichkeiten einer Tragödie so groß, dass man eher das Gefühl hat,
dass hier jemand diese Befreiung von der Eindeutigkeit feiert und
durch eine Vielzahl an Parataxen, Assoziationen und auch Eingriffen in
die Wahrnehmung des Publikums durch schockierende Aktionen eine
Vielzahl an Kurzkommentaren über den Zustand der Welt unterbringt und
einen am Ende des Abends mit einem arbeitenden Kopf und nicht enden
wollenden Ideen nach Hause schickt.
Es bringt fast nichts, die einzelnen Episoden nachzuerzählen, weil
gerade die langsame Ausführung der Prozesse, die unglaubliche
Fähigkeit der DarstellerInnen, mit einer Distanz zu ihren Figuren und
minimalistischen darstellerischen Mitteln die Impulse für all die
Assoziationen zu setzen und gleichzeitig eine musikalische Spannung
aufrechtzuerhalten, die bewundernswert ist, all diese Dinge zum
Gesamteindruck dieses Abends beitragen. Sollte jemand von Euch
Gelegenheit haben, die anderen Episoden zu sehen hat er oder sie ja
Gelegenheit, sich selbst von der Qualität dieser Truppe und der
Vielfalt des entworfenen Zeichenuniversums zu überzeugen.
Das Spektakel um Abraham, der den warnenden Engel nicht sieht und
Isaak versehentlich selbst opfert, um Oedipus, dem nach dem Rätsel der
Sphinx nur drei Autos einfallen, die (in Realitas und aus etwa 30 m
Höhe!!!!!) auf die Bühne fallen und der über diese Idee so ins Grübeln
gerät, dass er seine Mutter, die ihm verzweifelt die Brust bietet gar
nicht sieht und diese zu einer grotesken Masse wird, die rhythmische
Laute ausstößt, um Jesus, der auf einem Auto gekreuzigt wird und drei
Polizisten, die sich in Zitierung einer KZ-Szene gegenseitig mit
Wasser abspritzen, um dann selbst als Herrscher aufzutreten und
staatstragende Märsche abzuhalten, um einen weißten Pferdehintern, der
schwarz wird.... es ist eine brilliante Aufführung im postmodernen
Geist.
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