Berichte aus Paris

Berichte über mein Studienjahr in Paris
Freitag, 24. Oktober 2003
No 02 - 24/10/2003 - festtagsschmankerln und werktagskraut
Werte Freundinnen und Freunde,

fast zehn Tage ist es her, seit ich das letzte Mal (und das erste Mal) aus Paris schrieb. Gerda, vielleicht hast Du ja recht mit Deiner Vermutung, das Erleben Zeit und Energie beansprucht, die das Festhalten dann nicht hat - vielleicht war ich aber auch nur faul und hatte ein wenig Anpassungsprobleme. Nun denn.

Paris im Herbst, das bedeutet nicht nur strahlend blauen Himmel und Bodenfrost, sondern auch eine Vielzahl an Festivals (mag sein, dass es in Paris immer eine Vielzahl an Festivals gibt, das kann ich nicht beurteilen, zumindest gibt es jetzt gerade einige sehr schöne). Besonders das Festival d'Autome (www.festival-automne.com) überzieht die Stadt mit einer Vielzahl an Inszenierungen, Performances, Konzerten, Installationen und Ausstellungen. Schon die Inszenierung von Odile Darbelley und Michel Jacquelin, von der ich in der letzten Mail erzählt habe, war Teil des Festivalprogramms.

Gestern nun hat mich Birgit, meine Mit-Erasmuslerin aus München, an einen Ort geführt, der etwas konnte, was Kunst selten gelingt: mich verzaubern. Es handelt sich um eine Installation von Christian Boltanski, Jean Kalman und Franck Krawczyk mit dem Titel "O Mensch!" (die drei müssen in Berlin, Dresden und Lyon schon ähnliches gemacht haben, hat das jemand gesehen? Würde mich sehr interessieren!).

Man findet sich ein am Canal Nord, der sich durch den Nord-Osten von Paris zieht, und betritt einen engen Raum, dessen Eingang mit dickem Stoff verhängt ist. Dahinter erwarten einen der leicht scharfe Geruch von Rauch oder Nebel und sehr, sehr leise Klänge eines Akkordeons. Man hat einen Film betreten, so wie man sich Paris immer in seinen künsten Phantasien vorgestellt hat: Kalt, dunkel, neblig, Akkordeon, Lichter.... Jede Bewegung eines Besuchers wird zur Kunst, weil sie diesen versunkenen Raum strukturiert. Die ZuschauerInnen werden zu TänzerInnen, ohne es zu wissen. Man steigt eine Treppe hinauf, es ist eng, die Wände sind rot, von oben kommen Lichtstrahlen herunter wie in einem Holzverschlag am frühen Morgen die ersten, noch schwachen, aber scharf abgegrenzten Sonnenstrahlen der Wintersonne.

Man betritt einen langen Gang, der von einem längs gerichteten Licht beschienen ist, welches durch einen rotierenden Ventilator langsam seine Position ändert. Der Weg führt ins nichts - denn am anderen Ende des Ganges scheint auch ein Licht zu sein, man ist geblendet, im allgegenwärtigen Nebel sieht man wie Schemen in weiter Ferne die anderen BesucherInnen, doch man fühlt sich allein. Die Atmosphäre ist vorsichtig, tastend, suchend. Man findet einen kleinen Raum neben dem Gang, man setzt sich alleine in eine Bank, wie in einer Kirche, um einer eingehüllten schwarzen Gestalt dabei zuzusehen, wie sie eine winzige kleine Drehorgel bedient, deren Lochpapier zu eine Endlosschleife gedreht ist. Die Szenerie scheint versteinert, in ihrem Zirkel gefangen. Doch die Gestalt wird von einer anderen, ebenso vermummten Gestalt abgelöst, die sich aus der kleinen Gruppe der BesucherInnen löst und nun ihrerseits fortfährt, die Melodie abzuspuhlen. Scheinbar ohne Emotionen, ohne Zeit, ohne Anfang, ohne Ende.

Man entscheidet sich, weiterzugehen. Der Gang scheint endlos. Doch mit einem Mal - man konnte es vorher nicht sehen, geblendet von dem starken Gegenlicht - öffnet sich ein großer Raum, auch dieser durchzogen von Nebelschwaden, auch dieser geflutet mit diffusem licht. In der Mitte auf einer Bühne spielt ein in sich zusammengesunkener Mann Akkordeon. leise, aber beständig, fast ohne Ausdruck. Die selbe Melodie wie in der Drehorgel? Man weiß es nicht.

Er ist umrundet von Stühlen, an denen schwere, schwarze Mäntel hängen, und man meint, die Geister derer zu spühren, die früher hier schon immer saßen, die nach und nach verschwunden sind. Man braucht eine Zeit, um diesen Raum zu durchschreiten, man entdeckt einzelne Gestalten, die sich auch durch den Raum bewegen, die zuhören. Es schneit.

Wenn man sich endlich vornimmt, weiter dem Licht entgegenzugehen, so bricht plötzlich der kalte Wind auf einen herein. Man befindet sich auf einer Terasse, man hat es vorher nicht sehen können, man war geblendet, und nun tost um einen herum der Herbststurm. Große, weiße Planen schlagen im Wind gegen das Geländer, es ist laut, doch die Laute sind von einer Fremdheit die einen einsam werden lässt. Die Stadt, die sich um einen herum öffnet, ist nicht mehr einfach Paris. Jedes Fenster, jedes Auto bekommt eine Ordnung, in der Ferne fließt ein Menschenstrom aus einem Metroabgang auf einer Brücke, es sind anonyme Massen wie auf einem Stern in ferner Zukunft. Jede Kiste auf dem Weg wird zum Zeichen, bekommt eine unglaubliche Monumentalität, man möchte es ihr verbieten, denn wahrscheinlich ist sie nur zufällig da, doch sie ist Kunst und ein verzauberter Ort.

Hat man sich durch dieses Meer an Eindrücken gekämpft, so steht man plötzlich ganz alleine vor einer winzigen, dunklen Tür. Das gleißende Licht ist verschwunden, es gehörte einem Turm, in dem man jetzt steht, der ab und an dumpfe Töne von sich gibt. Man muss sich entscheiden - es gibt eine sehr enge Wendeltreppe, die nach oben in die absolute Dunkelheit führt, in der es nur ein Guckloch gibt das wie aus der Ferne die Szenerie auf der Terasse einfängt ,und die nach unten auf die Straße führt, vorbei an einem Fenster, welches eine Auffahrt zeigt, deren Ränder mit Kisten bestückt sind, die wie eine Armee das Gebäude bewachen, nach unten zu einem schmiedeisernen Tor, durch das Licht fällt - und man dreht sich um und liest auf dem Schatten "Jardin des Enfants".

Man geht zurück, etwas verstöhrt, die Welt entzaubert sich ohne das Gegenlicht, jetzt ist es ein danach, man kennt diese Welt schon, man kann sie nur noch verlassen.

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Später, auf der Straße, fragt man sich, weshalb einen drei Scheinwerfer, eine Nebelmaschine, ein Akkordeon und ein paar Plastikplanen so in den Bann ziehen konnten. Man begreift, dass die Welt immer so ist, dass es nur ein anderer Rahmen war, durch den man sie angeschaut hat.

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Alles weiter ein andermal. Herzliche Grüße an alle

Florian

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