Berichte aus Paris

Berichte über mein Studienjahr in Paris
Freitag, 7. November 2003
Werte Freundinnen und Freunde,

bevor ich in wenigen Stunden das Theater Nanterre-Amandiers besuche,
um mir eine zeitgenössische Medea-Version anzusehen möchte ich noch
kurz über die beiden anderen Aufführungen berichten, um gar nicht erst
in Verzug zu geraten mit meinem Versprechen, das, was ich hier sehe,
auch weiterzugeben.

Lasst Euch also berichten von "Faust ou la fête electrique" von
Gertrude Stein im Théâtre de la Villette (Compagnie Les Endimanchés,
Inszenierung und Musik: Alexis Forestier) und von "P. #06 Paris.
Tragedia endogonidia - VI Episode" von Romeo Castellucci im Odéon,
Théâtre de l'Europe aux Atheliers Berhier.

Beide Abende haben viel gemeinsam: Sie beziehen sich beide Texte,
deren kulturelle Bedeutung weit über die jeweilige schriftlich
fixierte Originalversion hinausgeht, deren Handlungsmotive längst
Allgemeingut geworden sind. In einem Fall spreche ich von Faust, im
anderen Fall von biblischen wie antik-griechischen Mythen bzw.
Geschichten (Abraham und Isaak, Oedipus, Jesus Christus). Beide
versuchen, diese alten Motive in abgewandelter Form dafür zu
verwenden, heutige Deutungen zu liefern und so in einem Fall eine
Studie über das postmoderne Subjekt, im anderen Fall eine politische
Tragödie für die heutige Zeit zu konstruieren.

Der Text "Faust ou la fête electrique" variiert und perpetuiert in
immer gleichen, zu Floskeln erstarrten Formulierungen mehrere
abgewandelte Handlungsmotive aus Faust I und II. Faust ist
gelangweilt. Er weiß alles, doch nicht befriedigt ihn. Er hat das
elektrische Licht erfunden und so der Menschheit unglaubliche
Bereicherung gebracht - doch bleibt ihm tiefere Erkenntnis versagt. Im
Unterschied zur Goetheschen Version ist an dieser Stelle aber auch der
Pakt mit Mephisto schon vorbei. Die moralische Verfehlung hat längst
Ihren Reiz verloren.
Mephisto selbst ist machtlos. Er klagt Faust an, ihn betrogen zu
haben, indem er ihm eine Seele versprochen hätte, die er, Faust, gar
nie besessen habe. Faust kann den Triumpf jedoch nicht genießen.
Vielmehr verlangt er mit großer Sehnsucht nach einer Seele, um mit ihr
in die Hölle gehen zu können. Um wenigstens diesen Beweis einer
Echtheit, einer Realität, einer Erkenntnis zu erlangen, tötet er den
Schüler und den Hund, die in seiner Studierstube Unterschlupf gefunden
haben. Das Projekt bleibt erfolglos.

Verwoben ist diese Zustandsbeschreibung des modernen, sinnentleerten
Subjekts mit einer anderen Figur, einer Frauenfigur mit zwei Namen:
"Margarethe Ida und Helèn Annabel". Dieses Wesen, das immer wieder
diese beiden Namen widerholt und dem die Übereinstimmung einer dieser
Identitäten mit sich selbt verweigert wird kommt zu Faust, da es von
einer Viper gebissen wurde. Faust kann jedoch keine Hilfe leisten, und
Margarethe Ida und Helèn Annabel stirbt, erstummt und erstarrt. Die
Inszenierung lässt die Viper in Gestalt eines bürgerlichen
Klischeeehemanns auftauchen und inszeniert den Tod als Weg in ein
trautes Wohnzimmeridyll.

Der Untertitel des Stückes "opéra fait pour être chanté" wird für
Alexis Forestier zum Programm: Er hat das gesammte Stück mit Musik
versehen. Es ist ein Musikversuch, eine Musikverhinderung. An Kurt
Weil erinnernde Instrumentarien ratschen und versuchen, eine
durchgehende Melodie, eine Gesangslinie zu erzeugen - doch scheitern
sie daran. Die immer wieder wiederholten Textzeilen sind kunstvoll
ineinandergewebt als ständiges Rauschen stockender Schallplatten. Die
Anklänge an Kurt Weil, an das Brechtsche Aufklärungstheater, an den
Überzeugungsgeist der Faust-Tragödie, an die Möglichkeit zumindest
einer Erotik, die auch ohne Ziel, ohne Bestimmung bleibt - dieses Netz
an Verweisen spielt sich ab in einem Raum, der vollgestopft ist mit
riesigen Metallteilen, Bögen, Stangen, Stühlen, Tischen - und
ausschließlich mit Glühbirnen erhellt wird. Diese Metallteile
strukturieren den Abend, denn sie befinden sich in ständigen Bewegung
und lassen eine sinnlose Bühnenmaschinerie ablaufen, die die Menschen
nur noch wie einen Nachklang ihrer selbst bestehen lässt.

Leider wirkt diese mechanische Abarbeitung der Prozesse wie ein
Sinnbild für die ganze Arbeit: Sorgsam ausgesuchte Versatzstücke der
Postmoderne, der Subjektkritik werden kunstvoll angeordnet und
abgeschnurrt. Die Poesie, die Wehmut, die Fragilität der Stein-Texte
wird dabei völlig untergraben. Und so bleibt am Ende der etwas
unangenehme Gedanke zurück, ob man nicht doch einfach ein Spiel mit
Klischees der Postmoderne gesehen hat. Eine wirkliche Haltung oder
zumindest eine Not, die Verzweiflung über den Verlust des
Subjektglaubens und des Fortschrittsglaubens wird nicht sichtbar. Es
bleibt ein gutes Handwerksstück. postmodern. und stabil. ungefährlich.

Wie sich die Arbeitsweisen ähneln können und doch der Unterschied
deutlich werden kann: Romeo Castellucci arbeitet in Tragedia
endogonidia ganz ähnlich. Auch er verflicht Motive, Mythen, bekannte
Bilder zu einem Netz von Verweisen. Auch seine Hauptthese scheint zu
sein, dass die eindeutige Sinnstiftung dieser Mythen nicht mehr
funktioniert, und man kann seine diebische Freude daran beobachten,
diese Sinnstiftung zu stören. Doch ist diese Freude an der Arbeit, die
Präzision seiner technischen und inszenatorischen Erfindungen und die
Oppulenz seines immerhin elf-teiligen Opus um die heutigen
Möglichkeiten einer Tragödie so groß, dass man eher das Gefühl hat,
dass hier jemand diese Befreiung von der Eindeutigkeit feiert und
durch eine Vielzahl an Parataxen, Assoziationen und auch Eingriffen in
die Wahrnehmung des Publikums durch schockierende Aktionen eine
Vielzahl an Kurzkommentaren über den Zustand der Welt unterbringt und
einen am Ende des Abends mit einem arbeitenden Kopf und nicht enden
wollenden Ideen nach Hause schickt.

Es bringt fast nichts, die einzelnen Episoden nachzuerzählen, weil
gerade die langsame Ausführung der Prozesse, die unglaubliche
Fähigkeit der DarstellerInnen, mit einer Distanz zu ihren Figuren und
minimalistischen darstellerischen Mitteln die Impulse für all die
Assoziationen zu setzen und gleichzeitig eine musikalische Spannung
aufrechtzuerhalten, die bewundernswert ist, all diese Dinge zum
Gesamteindruck dieses Abends beitragen. Sollte jemand von Euch
Gelegenheit haben, die anderen Episoden zu sehen hat er oder sie ja
Gelegenheit, sich selbst von der Qualität dieser Truppe und der
Vielfalt des entworfenen Zeichenuniversums zu überzeugen.

Das Spektakel um Abraham, der den warnenden Engel nicht sieht und
Isaak versehentlich selbst opfert, um Oedipus, dem nach dem Rätsel der
Sphinx nur drei Autos einfallen, die (in Realitas und aus etwa 30 m
Höhe!!!!!) auf die Bühne fallen und der über diese Idee so ins Grübeln
gerät, dass er seine Mutter, die ihm verzweifelt die Brust bietet gar
nicht sieht und diese zu einer grotesken Masse wird, die rhythmische
Laute ausstößt, um Jesus, der auf einem Auto gekreuzigt wird und drei
Polizisten, die sich in Zitierung einer KZ-Szene gegenseitig mit
Wasser abspritzen, um dann selbst als Herrscher aufzutreten und
staatstragende Märsche abzuhalten, um einen weißten Pferdehintern, der
schwarz wird.... es ist eine brilliante Aufführung im postmodernen
Geist.

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Freitag, 24. Oktober 2003
No 02 - 24/10/2003 - festtagsschmankerln und werktagskraut
Werte Freundinnen und Freunde,

fast zehn Tage ist es her, seit ich das letzte Mal (und das erste Mal) aus Paris schrieb. Gerda, vielleicht hast Du ja recht mit Deiner Vermutung, das Erleben Zeit und Energie beansprucht, die das Festhalten dann nicht hat - vielleicht war ich aber auch nur faul und hatte ein wenig Anpassungsprobleme. Nun denn.

Paris im Herbst, das bedeutet nicht nur strahlend blauen Himmel und Bodenfrost, sondern auch eine Vielzahl an Festivals (mag sein, dass es in Paris immer eine Vielzahl an Festivals gibt, das kann ich nicht beurteilen, zumindest gibt es jetzt gerade einige sehr schöne). Besonders das Festival d'Autome (www.festival-automne.com) überzieht die Stadt mit einer Vielzahl an Inszenierungen, Performances, Konzerten, Installationen und Ausstellungen. Schon die Inszenierung von Odile Darbelley und Michel Jacquelin, von der ich in der letzten Mail erzählt habe, war Teil des Festivalprogramms.

Gestern nun hat mich Birgit, meine Mit-Erasmuslerin aus München, an einen Ort geführt, der etwas konnte, was Kunst selten gelingt: mich verzaubern. Es handelt sich um eine Installation von Christian Boltanski, Jean Kalman und Franck Krawczyk mit dem Titel "O Mensch!" (die drei müssen in Berlin, Dresden und Lyon schon ähnliches gemacht haben, hat das jemand gesehen? Würde mich sehr interessieren!).

Man findet sich ein am Canal Nord, der sich durch den Nord-Osten von Paris zieht, und betritt einen engen Raum, dessen Eingang mit dickem Stoff verhängt ist. Dahinter erwarten einen der leicht scharfe Geruch von Rauch oder Nebel und sehr, sehr leise Klänge eines Akkordeons. Man hat einen Film betreten, so wie man sich Paris immer in seinen künsten Phantasien vorgestellt hat: Kalt, dunkel, neblig, Akkordeon, Lichter.... Jede Bewegung eines Besuchers wird zur Kunst, weil sie diesen versunkenen Raum strukturiert. Die ZuschauerInnen werden zu TänzerInnen, ohne es zu wissen. Man steigt eine Treppe hinauf, es ist eng, die Wände sind rot, von oben kommen Lichtstrahlen herunter wie in einem Holzverschlag am frühen Morgen die ersten, noch schwachen, aber scharf abgegrenzten Sonnenstrahlen der Wintersonne.

Man betritt einen langen Gang, der von einem längs gerichteten Licht beschienen ist, welches durch einen rotierenden Ventilator langsam seine Position ändert. Der Weg führt ins nichts - denn am anderen Ende des Ganges scheint auch ein Licht zu sein, man ist geblendet, im allgegenwärtigen Nebel sieht man wie Schemen in weiter Ferne die anderen BesucherInnen, doch man fühlt sich allein. Die Atmosphäre ist vorsichtig, tastend, suchend. Man findet einen kleinen Raum neben dem Gang, man setzt sich alleine in eine Bank, wie in einer Kirche, um einer eingehüllten schwarzen Gestalt dabei zuzusehen, wie sie eine winzige kleine Drehorgel bedient, deren Lochpapier zu eine Endlosschleife gedreht ist. Die Szenerie scheint versteinert, in ihrem Zirkel gefangen. Doch die Gestalt wird von einer anderen, ebenso vermummten Gestalt abgelöst, die sich aus der kleinen Gruppe der BesucherInnen löst und nun ihrerseits fortfährt, die Melodie abzuspuhlen. Scheinbar ohne Emotionen, ohne Zeit, ohne Anfang, ohne Ende.

Man entscheidet sich, weiterzugehen. Der Gang scheint endlos. Doch mit einem Mal - man konnte es vorher nicht sehen, geblendet von dem starken Gegenlicht - öffnet sich ein großer Raum, auch dieser durchzogen von Nebelschwaden, auch dieser geflutet mit diffusem licht. In der Mitte auf einer Bühne spielt ein in sich zusammengesunkener Mann Akkordeon. leise, aber beständig, fast ohne Ausdruck. Die selbe Melodie wie in der Drehorgel? Man weiß es nicht.

Er ist umrundet von Stühlen, an denen schwere, schwarze Mäntel hängen, und man meint, die Geister derer zu spühren, die früher hier schon immer saßen, die nach und nach verschwunden sind. Man braucht eine Zeit, um diesen Raum zu durchschreiten, man entdeckt einzelne Gestalten, die sich auch durch den Raum bewegen, die zuhören. Es schneit.

Wenn man sich endlich vornimmt, weiter dem Licht entgegenzugehen, so bricht plötzlich der kalte Wind auf einen herein. Man befindet sich auf einer Terasse, man hat es vorher nicht sehen können, man war geblendet, und nun tost um einen herum der Herbststurm. Große, weiße Planen schlagen im Wind gegen das Geländer, es ist laut, doch die Laute sind von einer Fremdheit die einen einsam werden lässt. Die Stadt, die sich um einen herum öffnet, ist nicht mehr einfach Paris. Jedes Fenster, jedes Auto bekommt eine Ordnung, in der Ferne fließt ein Menschenstrom aus einem Metroabgang auf einer Brücke, es sind anonyme Massen wie auf einem Stern in ferner Zukunft. Jede Kiste auf dem Weg wird zum Zeichen, bekommt eine unglaubliche Monumentalität, man möchte es ihr verbieten, denn wahrscheinlich ist sie nur zufällig da, doch sie ist Kunst und ein verzauberter Ort.

Hat man sich durch dieses Meer an Eindrücken gekämpft, so steht man plötzlich ganz alleine vor einer winzigen, dunklen Tür. Das gleißende Licht ist verschwunden, es gehörte einem Turm, in dem man jetzt steht, der ab und an dumpfe Töne von sich gibt. Man muss sich entscheiden - es gibt eine sehr enge Wendeltreppe, die nach oben in die absolute Dunkelheit führt, in der es nur ein Guckloch gibt das wie aus der Ferne die Szenerie auf der Terasse einfängt ,und die nach unten auf die Straße führt, vorbei an einem Fenster, welches eine Auffahrt zeigt, deren Ränder mit Kisten bestückt sind, die wie eine Armee das Gebäude bewachen, nach unten zu einem schmiedeisernen Tor, durch das Licht fällt - und man dreht sich um und liest auf dem Schatten "Jardin des Enfants".

Man geht zurück, etwas verstöhrt, die Welt entzaubert sich ohne das Gegenlicht, jetzt ist es ein danach, man kennt diese Welt schon, man kann sie nur noch verlassen.

--

Später, auf der Straße, fragt man sich, weshalb einen drei Scheinwerfer, eine Nebelmaschine, ein Akkordeon und ein paar Plastikplanen so in den Bann ziehen konnten. Man begreift, dass die Welt immer so ist, dass es nur ein anderer Rahmen war, durch den man sie angeschaut hat.

--

Alles weiter ein andermal. Herzliche Grüße an alle

Florian

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Freitag, 17. Oktober 2003
No 01 - 15/10/2003 - Ankunft.Aufstand.
Werte Freundinnen und Freunde,

nun sitze ich also erstmals hier in meiner Schlafkammer und versuche, einen Eindruck davon zu vermitteln, was sich um mich herum abspielt, was ich erlebe und was sich mir zuträgt.

Der Ort, an dem sich diese Schlafkammer befindet, ist ganz wunderbar und gleichzeitig etwas seltsam. Die Cité Internationale Universitaire de Paris kann man sich als eine großzügige Campusanlage mit Häusern der unterschiedlichsten Nationen vorstellen, in der 5500 Studierende und einige wenige Forscher aus dem Ausland und teilweise auch aus Frankreich ihre Zeit in Paris verbringen. Angesichts der teilweise wirklich großartigen Architektur, die diese Häuser haben - das Maison Heinrich Heine, aber auch einge andere Häuser sind echte Perlen der 50er Jahre, andere Häuser haben eher einen klassizistischen Stil und versuchen, großbürgerlich zu protzen - wirkt die bunte, laute und sehr lebendige Athmosphäre seltsam unintellektuell. Zwar wird man an allen Ecken und Enden überschüttet mit Theaterabenden , Filmvorführungen, Diskussionrunden und Tanzkursen - doch die Gespräche in der Mensa erinnern einen eher an ein billiges Touristenlokal. Mit viel sportlichen Menschen und einem umtriebigen Verein, der günstige Reisen in die umliegenden europäischen Metropolen sowie günstige Besäufnisse zum Zweck der schnellen und reibungslosen Integration veranstaltet hat die Anlage aber dennoch Ihren Charme - nur eben manchmal eher den eines Youth-Hostels mit Kulturprogramm als den eines Hortes des intensiven internationalen Gedankenaustausches.

Wagt man sich in die umliegenden Straßen - die CIUP liegt im 14. Bezirk, am südlichen Rand der Pariser Innenstadt -, so befindet man sich Richtung Nord-Osten inmitten schwindelerregender Hochhäuser, die unvorstellbare Mengen von Menschen ausspucken und einem vor Augen führen, wie viele Menschen diese Stadt doch hat, in Richtung Nord-Westen dagegen kann man sich (u.a. auf der Allee Samuel Beckett) in Richtung eines netten, belebten und teilweise sehr schönen Viertels vor dem Gare Montpernasse bewegen. Sicherlich ist das nicht gerade das Zentrum der Kreativen und Schönen, aber doch ein Umfeld, in dem es sich durchaus leben lässt - zumal man mit dem RER (einer Art S-Bahn, nur schneller) in 20 Minuten bei Notre-Dame oder am Centre Pompidou ist.

Noch ein paar Worte und Gedanken zum derzeit aktuellen kunstpolitischen Hauptthema. Die freie Theater- und Kunstszene von Paris befindet sich derzeit in Revolutionsstimmung. Grund ist - so weit ich das verstanden habe - so eine Art Vereinbarung (ein Tarifvertrag?) zwischen dem französischen Staat und irgendwelchen Künstlersozialverbänden, der eine massive Einschränkung der Zuwendungen zur Folge haben wird, die freie Künstler hier unter bestimmten Umständen auch ohne aktuell laufende Arbeit erhalten. Diese Woche ist die offizielle Protestwoche, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass man, wenn man ins Theater geht im Anschluss eine kurze Ansprache erhält, im Foyer Unterschriften gesammelt werden und außerdem dutzende Lesungen, Manifeste, Foren etc. veranstaltet werden.

Bei diesen Verlautbarungen gegen die unterzeichnete Vereinbarung wird dann gleich zu sehr prinzipiellem Vokabular gegriffen: Die Freiheit der Kunst sei in Gefahr, es gehe darum, das Wahre, Gute und Schöne zu bewahren, die Alternative, die sich die Regierung wünsche, sei eine reine Kommerzkunst wie "Starmania" o.ä., die automatisch entstünde, wenn man die Kunst einem etwas liberalisisertem Markt aussetzte... Diejenigen Theater, die diesen Vertrag mit unterschrieben haben, seien Kollaborateure und Faschisten... Die Rhethorik erinnert sehr stark an den Münchner ASTA. Auffällig ist, dass unter all diesen rhethorischen Großangriffen kaum herauszufinden ist, worum es denn nun eigentlich konkret geht. Versucht man, sich zu informieren und stellt dabei ein paar kritische Fragen, so kann es einem leicht passieren, dass die Aggressionen, denen man ausgesetzt ist einem das klare Denken etwas verleiden.

Und so eröffnet sich mir die Pariser Kunst- und Theaterszene gleich zu beginn sehr zweischneidig: Einerseits bin ich begeistert und überwältigt von dem unglaublichen Reichtum, der Vielfalt und dem Engagement, das die festen Häuser, aber auch die freie Szene an den Tag legen. Man gerät fast in Panik, weil es einem kaum möglich ist, auch nur irgendwie den Überblick zu behalten. Andererseits fragt man sich schon, ob dieser Reichtum nicht auch ein ziemlicher Luxus ist, der dafür sorgt, dass sich eine insgesamt doch recht kleine Elite in einer bunten und metropoliten Stadt eben auch noch das mehr oder weniger intellektuelle Amüsement leisten kann.

Diese Widersprüchlichkeit findet sich in Paris auf ganz vielen Ebenen. Auch im sozialen Bereich ist es schon sehr auffällig, dass beispielsweise das studentische Leben deutlich mehr subventioniert zu sein scheint, als es bei uns der Fall ist: Unglaubliche Massen von Leuten können in wirklich sehr guten Restaurants zum landesweit einheitlichen Preis von 2,60€ ein komplettes Menü incl. Brot und Wasser verspeisen, die Unis sind riesig und letztlich für jeden zugänglich. Doch dafür sind sie eben auch nicht so gut, die Licence-Kurse sind Veranstaltungen für 40 Leute, die sich von einem Dozenten oder einer Dozentin ins Heft diktieren lassen, brav ihre Hausaufgaben machen und am Ende des Semesters ein Examen schreiben.

Mir scheint, als wäre der berühmte "Reformstau" hier in Frankreich noch viel größer als in Deutschland. Auch scheint der "alte" Widerspruch von rechts und links hier deutlich schärfer und deutlich unüberwindbarer zu sein als bei uns in Deutschland (mag sein, dass es daran liegt, dass sich bei uns eine rot-grüne Regierung mit den notwendigen Reformen abmüht und deshalb zumindest die parteipolitisch organisierte Linke die schwere Kost der Realpolitik mühsam lernen muss, während man in Frankreich als Linker getrost auf die semifaschistoide Regierung schimpfen kann und sich den Traum eines Versorgungsstaates aufrecht erhält. Die Zeichen sind überall: An der Uni ist überall groß plakatiert "Contre le liberalime", es wird zu Solidaritätsmärschen für irgendwelche verschollenen Revolutionsführer mit Rastalocken aufgerufen und mitten im Haupteingang steht - neben einigen Promotion-Leutchen, die Produktproben oder kostenlose Studierendenzeitungen verteilen - ein Kiosk einer Befreiungsorganisation für Palästina, die ohne größere Probleme Israel als faschistischen Staat bezeichnen dürfen.

Die Rechte nehme ich in meinem derzeitigen Umfeld nicht so wahr, was daran liegen mag, dass ich mich mit der Uni und den Theatern in klassischerweise linkem Umfeld bewege, doch in den Zeitungen wird schon klar, dass die Regierung mit ebensogroßer Deutlichkeit reagiert.

Ich bin sehr gespannt, ob sich die finanzielle Not einerseits, die politische Situation andererseits in irgend einer Weise in den künstlerischen Arbeiten, die ich sehe, ausdrücken werden. Bislang habe ich zwei Abende gesehen, die meines Erachtens erstaunlich naiv mit den aktuellen Anlässen umgegangen sind:

Im Theatre Ouvert, dem Centre Dramatique Natonal de Création habe ich eine vom Autor selbst inszenierte Uraufführung gesehen: "Eddy, F. de Pute" (Eddy, der Hurensohn) von Jérôme Robart. Die sehr monströs-krasse Inszenierung dieser freien Bearbeitung des Ödipus-Stoffes versuchte, eine Art schicksalhafte Verknüpfung von monströsen Ereignissen im Leben einer Familie von heute darzustellen. Schattenhaft und ohne große Chance wirkten die Figuren, die entdecken mussten, dass Ihr Vater ein Freier, Ihre Mutter eine Hure und sie selbst nicht mehr als die Ausführer, die Fortsetzung ihrer Eltern sind. Der Sohn findet schließlich die Mutter und schläft ohne es zu wissen mit Ihr, die Tochter wird von einem Freier der Mutter vergewaltigt, der 15 Jahre auf sie gewartet hat und mit der Erkenntnis, dass er das getan hat, nicht umgehen kann und sich die Augen aussticht. Der Sohn tötet bewusst und aus blankem Hass, aus blanker Verzweiflung den Vater und kehrt schließlich als Liebhaber zu seiner Mutter zurück.

Leider war die Inszenierung, ohne, dass man das hätte sinnvoll einordnen können, überladen mit Gewalt, Lärm und Sex, es war eine einzige Orgie eines verletzten Menschen, der sich dem Schicksal ausgeliefert fühlt. Dabei ließ sich jedoch weder eine Haltung zu den Figuren herauslesen noch eine Haltung zu den Umständen, in denen sie sich befinden. Der krasse Hyperrealismus der Inszenierung illustrierte noch die konventionell-dramatische Form des Textes. Man blieb seltsam unbefriedigt zurück.

Im Anschluss an diesen Abend wurde - anstatt die Not der KünstlerInnen wirklich zu erläutern - ein Text von Victor Hugo verlesen, der 1848 vor der franz. Nationalversammlung eine flammende Rede zur Finanzierung der Kunst und der Wissenschaften gehalten hat. Die wie reflexhaft wirkende Protesthaltung gegenüber einem allmächtig wirkenden Staat passte hervorragend zur Massivität, die das Schicksal im Stück gespielt hatte. Mir blieb jedoch der bittere Nachgeschmack übrig, dass diese Haltung gegenüber den "Umständen" dem Staat gerade eine Machtposition zuspielt, die er in einer Demokratie eigentlich gar nicht hat. Der Einfluss, den jeder Bürger und jede Bürgerin auf Ihren Staat hat wurde völlig ignoriert. In der Formel vom schicksalhaften Weltenende, verordnet von einer rohen und ökonomistischen Regierung und verkörpert durch die Umgewöhnung der KünstlerInnen in Frankreich manifestierte sich eine absulute Abwehr gegenüber jedweder Verhandlung über Veränderung.

Die zweite Arbeit, die ich gesehen habe war ein Abschnitt einer längeren Serie: Odelie Darbelley und Michel Jacquelin haben mit "À l'ombre des Pinceaux en Fleurs" den zweiten Teil einer Reihe von Theaterabenden über zeitgenössische Kunst gemacht. Handwerklich sehr gut und wirklich sehr, sehr witzig zogen sie die Attitüden und Spießigkeiten des zeitgenössischen Kunstdiskurses durch den Kakao, "objets trouvés", abstrakte Kunst, minimal Art, Performances mit massiver Materialität und der Arbeit mit Fleisch, Ekel, ..... sowie Videoinstallationen wurden mit einem liebenswürdigen Blick "von innen" als oftmals relativ reflexhaftes Abarbeiten von künstlerischen Floskeln enttarnt.

Überhaupt nicht dazu passen wollte der groß aufgebaute Protesttisch und die Großen Plakate über dem Eingang. Die kritische Haltung gegenüber einer selbstverliebten, selbstreferentiellen Kunstszene blieb völlig in der Luft hängen angesichts dessen, dass gerade bei so einer Aufführung ohne differentiertere Betrachtung für eben diese Kunstszene eine weitere Dauerallimentation gefordert wurde. Mir erscheint dieser Blickwinkel - auch angesichts des Publikums, das beide Vorstellungen besuchte und von Kleidungsstil und Benehmen her weder arm noch ungebildet aussah - fast schon zynisch. In einem staatlichen System, welches kaum mehr funktionsfähig ist, welches an den Ärmsten der Armen sparen muss, weil es sonst aufhört zu funktionieren sonnt sich in meinen Augen hier eine Elite in ihrem eigenen Schein und gefällt sich in ihrem Leid ganz gut.

Ihr seht, meine Gedanken sind derzeit sehr blasphemisch. Bis zu einem gewissen Maße kannte ich das ja schon von München, aber hier scheint mir die Lage noch verfahrener, noch krasser zu sein. Ich bin gespannt, wie sich diese Diskussionen weiter entwickeln werden. Und ich werde ganz frech weiterhin die vielen Vorteile, die ein solches sehr staatlich-zentralistisches System hat, nutzen: billiges, gutes Studentenessen, kostenlose Jugendkarten für die kleinen Theater und eine bunte, reichhaltige Theater- und Kunstszene. Mal sehen, wann mich auch der Teufel des schlechten Gewissens einholt. Wahrscheinlich spätestens beim 2. Europäischen Sozialforum , welches im November in St-Denis, also in meiner Unistadt, stattfindet und welches all diese Fragen sicherlich weiterhin aufflammen lässt.

Bis bald und mit herzlichen Grüßen an alle

Euer

Florian

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