Berichte aus Paris

Berichte über mein Studienjahr in Paris
Samstag, 1. November 2003
No 03 - 01/11/2003 - Die spinnen, die Pariser!
Werte Freundinnen und Freunde,

ich bin untröstlich, aber es muss sein: Es folgt ein politisch völlig unkorrekter Bericht. Ich weiß, all Ihr kunstbegeisterten und kulturbeflissenen DenkerInnen sehnt Euch nach weiteren Berichten aus dem Theater, ich hätte da auch einiges zu schreiben - aber heute, jetzt, genau einen Monat nach meiner Ankunft in dieser Stadt, heute ist die Analyse der Alltagsverichtungen dran.

Die spinnen die Pariser. Anders kann man es nicht formulieren. Diese Stadt ist ein einziges Labyrinth aus sehr engen Tunnels, Treppen und Räumen, in denen man sehr, sehr teure Getränke konsumieren kann. Eine reglementierte, bürokratische, etatistische Verwaltungorgie, bei der mit Sperren, Einlasskontrollen, Bewerbungsmodalitäten, Passbildern und langen Schlangen vor verschiedenen Schaltern Herrschaftsbereiche voneinander getrennt und Grenzen inszeniert und stabilisiert werden. Allerdings muss man den Menschen die diese Stadt bevölkern eins lassen: Sie scheinen sich prächtig damit arrangiert zu haben. Denn vom Revolutionsgeist vergangener Jahrhunderte ist nicht viel zu spühren - und trotz ihrer beachtlichen kulturellen, nationalen und sozialen Diversität nehmen die Pariserinnen und Pariser all diese Dinge mit einer Gelassenheit hin, die bewundernswert ist. Auf Metro-Bahnsteigen voller sardienenartig zusammengequetschter Pendler, in stundenlangen Warteschlangen vor Bibliothekseingängen, bei trotz aller Bürokratie nie mit den angeschlagenen Prognosen in Übereinstimmung zu bringenden Öffnungszeiten: Niemand murrt. Es entsteht im ersten Moment ein überraschter Gesichtsausdruck, leise wird in die Runde eine Frage wie "Ach, das ist die Schlange?" gemurmelt - und dann begibt man sich stumm in sein Schicksal, liest dabei Zeitung, schreibt SMS oder ruht sich aus.

Um meiner akademischen Profession genüge zu tun, lasst Euch berichten vom Wesen der französischen Nationalbibliothek "Francois Mitterand": Ein monumentales Bauwerk, das wohl in der Fachwelt gemeinhin als misslungen gilt und (laut Dumont Kunstführer) von der Süddeutschen Zeitung als "Schmarrn" tituliert wurde. Man stelle sich vier L-förmige Türme aus Glas vor, die zu einander so gestellt sind, dass sie ein Rechteck ergeben. Die Fassaden sind völlig plan und ausschließlich aus Glas und Metall, so dass man sich verstellen könnte, dass es sich um einen lichtdurchfluteten Kristallpalast handeln könnte (so war es wohl auch gedacht). Sinnigerweise ist jedoch in diesen Türmen nahezu der gesamte Bestand an Büchern aufbewahrt, deren Licht- und Temperaturempflindlichkeit den nachträglichen Einbau von hölzernen Wandmodulen nötig machte. Der Glaspalast sieht jetzt aus, als hätte ihn von innen jemand mit Pappkarton ausgekleidet. Stumpf und öde verbreitet er eine bedrohliche Atmosphäre. Sieht man aus der Nähe genauer hin, so sind in vielen Etagen - dort, wo sich offensichtlich Büros befinden - die Wandmodule teilweise geöffnet, und da sie von innen wohl eher wie eine Art Einbauschrank wahrgenommen werden kann man von außern sehr schön all die Mülltüten, Regenschirme, alten Aktenordner und weiteren Krimskrams besichtigen, der das so stolze Bauwerk in einen großen Mülleimer verwandelt.

Als kleiner, armer Benutzer ist es nun aber nicht möglich, einfach in einen dieser Türme zu gehen - man besteigt zunächst einen riesigen, völlig schnörkellosen Holzsockel, der das gemeinsame Fundament der Türme bildet. Hat man diese (bei Regen recht rutschige und wegen fast völlig fehlenden Geländern und steiler Anordnung lebensgefährlichte) Hürde überwunden, findet man sich auf einem menschenverachtend großartigen Platz wieder, der sich in der Mitte zu einem Fußballfeldgroßen Loch öffnet, in dessen Tiefe sich ein wunderschöner, leider jedoch unzugänglicher waldartiger Garten befindet. Völlig eingeschüchtert folgt man den Hinweisschildern zu einem der Eingänge und findet sich auf einem relativ steilen Rollband wieder, welches einen innerhalb eines ebenfalls übermenschlich großen Metallbalkens in dieses Loch hinein führt. Natürlich ist auch dieses Rollband bei Regen ein nahezu unüberwindbares Hindernis, und nicht umsonst werden alte Menschen und RollstuhlfahrerInnen inzwischen per angeklebtem Zettel zu einem Hintergrundausgang gelotst.

Sollte man es lebend und ohne größere Verletzungen bis zur Eingangstür geschafft haben, so erwartet einen eine Sicherheitsschleuse. Überhaupt erinnert einen der gesamte Eingang mehr an einen Flughafen als an einen Ort der Lektüre und der Musen. Nun denn, dem aufkeimenden Terrorismus muss Genüge getan werden.

Bleibt also nun der Versuch, einen der wunderbar durchnummerierten und nach Fächern sortierten Lesesäle zu betreten. Doch das ist so einfach nicht: Der Erwerb eine Jahreskarte für den allgemein zugänglichen Bereich ist recht einfach. Zwar muss man auch dafür zunächst zu einem Spezialschalter für ermäßigte Jahreskarten, bevor man an der Kasse zahlen kann, doch an diese Klassifikation und die damit verbundenen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (5 offene Schalter für zu dieser Zeit zwei Benutzer) hat man sich in Paris längst gewöhnt. Schwierig wird es allerdings, wenn man - ob eventueller Forschungsvorhaben, eigentlich gerne gleich den höheren Beitrag mit Zugang zur gesamten Bibliothek inklusive Bestellberechtigung aus dem Magazin hätte. Nun reicht aber der (immerhin doppelt so hohe) Preis offensichtlich nicht aus, um diesem Bereich für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen den entsprechenden Wert zuzuweisen - man kann diesen teureren Pass nur erwerben, wenn man vorher zum LeserInnen-Beratungsservice geht (den man sich von der Organisation wie das Kreisverwaltungsreferat inklusive Nummernziehen - falsch, Nummer an einem Schalter erbitten - und Büroverschlägen denken muss), diesem seine Bibliographie zur Prüfung vorlegt (schriftlich!) und von diesem Service bestätigt bekommt, dass man tatsächlich das ganze Jahr über regelmäßigen Zugang zu diesem Magazin benötigt. Nun ist es aber nicht so, dass für gerade in Abschlussarbeit befindliche Studierende diese Genemigung einfach ausgestellt würde, nein! Wenn man nämlich zu wenige seltene Bücher in seiner Bibliographie hat, dann erhält man nur die Berechtigung, diesen Bereich im Jahr 15 Mal zu betreten - den Rest der Zeit hat man im gemeinen Volkslesesaal (der natürlich wie alles in dieser Wahnsinnsstadt völlig überfülllt und mit einer Warteschlange inklusive Sicherheitsbeamtin ausgestattet ist) zu verbringen.

Hat man sich dann auf Grund dieser künstlich aufrechterhaltenen Knappheit der Ressouce Magazin schlicht für einen Normalbenutzerausweis entschieden und an der Kasse seine Gebühren brav entrichtet, ist man der Beschilderung in ein System von Aufzügen ohne korrespondierende Treppen gefolgt, die einen in irgendeinen Winkel des Hauses in den Lesesaal bringen - so wandelt sich mit einem Mal das Bild. Denn in den Lesesaal kommt man zwar nur mit Hilfe eines Drehkreuzes - doch darf man, was in Deutschland undenkbar wäre - seinen Mantel, seinen Rucksack, eigene Bücher etc. völlig ohne Kontrolle hineinnehmen. Und so wird dann das Vergnügen, auf diesen riesigen Sesseln zu sitzen, die selbst mir (192 cm!) das Gefühl vermitteln, ein kleines Kind zu sein, und der Genuss einer wirklich gut sortierten Präsenzabteilung doch noch spührbar. Aber so sind sie eben, die Pariser. Man muss wohl lernen, es ähnlich wie sie zu ertragen. Hinzunehmen. Und dabei fröhlich zu sein.

Mehr Berichte aus dieser Metropole der real existierenden Bürokratenoligarchie in Bälde


Euer Florian

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Freitag, 24. Oktober 2003
No 02 - 24/10/2003 - festtagsschmankerln und werktagskraut
Werte Freundinnen und Freunde,

fast zehn Tage ist es her, seit ich das letzte Mal (und das erste Mal) aus Paris schrieb. Gerda, vielleicht hast Du ja recht mit Deiner Vermutung, das Erleben Zeit und Energie beansprucht, die das Festhalten dann nicht hat - vielleicht war ich aber auch nur faul und hatte ein wenig Anpassungsprobleme. Nun denn.

Paris im Herbst, das bedeutet nicht nur strahlend blauen Himmel und Bodenfrost, sondern auch eine Vielzahl an Festivals (mag sein, dass es in Paris immer eine Vielzahl an Festivals gibt, das kann ich nicht beurteilen, zumindest gibt es jetzt gerade einige sehr schöne). Besonders das Festival d'Autome (www.festival-automne.com) überzieht die Stadt mit einer Vielzahl an Inszenierungen, Performances, Konzerten, Installationen und Ausstellungen. Schon die Inszenierung von Odile Darbelley und Michel Jacquelin, von der ich in der letzten Mail erzählt habe, war Teil des Festivalprogramms.

Gestern nun hat mich Birgit, meine Mit-Erasmuslerin aus München, an einen Ort geführt, der etwas konnte, was Kunst selten gelingt: mich verzaubern. Es handelt sich um eine Installation von Christian Boltanski, Jean Kalman und Franck Krawczyk mit dem Titel "O Mensch!" (die drei müssen in Berlin, Dresden und Lyon schon ähnliches gemacht haben, hat das jemand gesehen? Würde mich sehr interessieren!).

Man findet sich ein am Canal Nord, der sich durch den Nord-Osten von Paris zieht, und betritt einen engen Raum, dessen Eingang mit dickem Stoff verhängt ist. Dahinter erwarten einen der leicht scharfe Geruch von Rauch oder Nebel und sehr, sehr leise Klänge eines Akkordeons. Man hat einen Film betreten, so wie man sich Paris immer in seinen künsten Phantasien vorgestellt hat: Kalt, dunkel, neblig, Akkordeon, Lichter.... Jede Bewegung eines Besuchers wird zur Kunst, weil sie diesen versunkenen Raum strukturiert. Die ZuschauerInnen werden zu TänzerInnen, ohne es zu wissen. Man steigt eine Treppe hinauf, es ist eng, die Wände sind rot, von oben kommen Lichtstrahlen herunter wie in einem Holzverschlag am frühen Morgen die ersten, noch schwachen, aber scharf abgegrenzten Sonnenstrahlen der Wintersonne.

Man betritt einen langen Gang, der von einem längs gerichteten Licht beschienen ist, welches durch einen rotierenden Ventilator langsam seine Position ändert. Der Weg führt ins nichts - denn am anderen Ende des Ganges scheint auch ein Licht zu sein, man ist geblendet, im allgegenwärtigen Nebel sieht man wie Schemen in weiter Ferne die anderen BesucherInnen, doch man fühlt sich allein. Die Atmosphäre ist vorsichtig, tastend, suchend. Man findet einen kleinen Raum neben dem Gang, man setzt sich alleine in eine Bank, wie in einer Kirche, um einer eingehüllten schwarzen Gestalt dabei zuzusehen, wie sie eine winzige kleine Drehorgel bedient, deren Lochpapier zu eine Endlosschleife gedreht ist. Die Szenerie scheint versteinert, in ihrem Zirkel gefangen. Doch die Gestalt wird von einer anderen, ebenso vermummten Gestalt abgelöst, die sich aus der kleinen Gruppe der BesucherInnen löst und nun ihrerseits fortfährt, die Melodie abzuspuhlen. Scheinbar ohne Emotionen, ohne Zeit, ohne Anfang, ohne Ende.

Man entscheidet sich, weiterzugehen. Der Gang scheint endlos. Doch mit einem Mal - man konnte es vorher nicht sehen, geblendet von dem starken Gegenlicht - öffnet sich ein großer Raum, auch dieser durchzogen von Nebelschwaden, auch dieser geflutet mit diffusem licht. In der Mitte auf einer Bühne spielt ein in sich zusammengesunkener Mann Akkordeon. leise, aber beständig, fast ohne Ausdruck. Die selbe Melodie wie in der Drehorgel? Man weiß es nicht.

Er ist umrundet von Stühlen, an denen schwere, schwarze Mäntel hängen, und man meint, die Geister derer zu spühren, die früher hier schon immer saßen, die nach und nach verschwunden sind. Man braucht eine Zeit, um diesen Raum zu durchschreiten, man entdeckt einzelne Gestalten, die sich auch durch den Raum bewegen, die zuhören. Es schneit.

Wenn man sich endlich vornimmt, weiter dem Licht entgegenzugehen, so bricht plötzlich der kalte Wind auf einen herein. Man befindet sich auf einer Terasse, man hat es vorher nicht sehen können, man war geblendet, und nun tost um einen herum der Herbststurm. Große, weiße Planen schlagen im Wind gegen das Geländer, es ist laut, doch die Laute sind von einer Fremdheit die einen einsam werden lässt. Die Stadt, die sich um einen herum öffnet, ist nicht mehr einfach Paris. Jedes Fenster, jedes Auto bekommt eine Ordnung, in der Ferne fließt ein Menschenstrom aus einem Metroabgang auf einer Brücke, es sind anonyme Massen wie auf einem Stern in ferner Zukunft. Jede Kiste auf dem Weg wird zum Zeichen, bekommt eine unglaubliche Monumentalität, man möchte es ihr verbieten, denn wahrscheinlich ist sie nur zufällig da, doch sie ist Kunst und ein verzauberter Ort.

Hat man sich durch dieses Meer an Eindrücken gekämpft, so steht man plötzlich ganz alleine vor einer winzigen, dunklen Tür. Das gleißende Licht ist verschwunden, es gehörte einem Turm, in dem man jetzt steht, der ab und an dumpfe Töne von sich gibt. Man muss sich entscheiden - es gibt eine sehr enge Wendeltreppe, die nach oben in die absolute Dunkelheit führt, in der es nur ein Guckloch gibt das wie aus der Ferne die Szenerie auf der Terasse einfängt ,und die nach unten auf die Straße führt, vorbei an einem Fenster, welches eine Auffahrt zeigt, deren Ränder mit Kisten bestückt sind, die wie eine Armee das Gebäude bewachen, nach unten zu einem schmiedeisernen Tor, durch das Licht fällt - und man dreht sich um und liest auf dem Schatten "Jardin des Enfants".

Man geht zurück, etwas verstöhrt, die Welt entzaubert sich ohne das Gegenlicht, jetzt ist es ein danach, man kennt diese Welt schon, man kann sie nur noch verlassen.

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Später, auf der Straße, fragt man sich, weshalb einen drei Scheinwerfer, eine Nebelmaschine, ein Akkordeon und ein paar Plastikplanen so in den Bann ziehen konnten. Man begreift, dass die Welt immer so ist, dass es nur ein anderer Rahmen war, durch den man sie angeschaut hat.

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Alles weiter ein andermal. Herzliche Grüße an alle

Florian

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Freitag, 17. Oktober 2003
No 01 - 15/10/2003 - Ankunft.Aufstand.
Werte Freundinnen und Freunde,

nun sitze ich also erstmals hier in meiner Schlafkammer und versuche, einen Eindruck davon zu vermitteln, was sich um mich herum abspielt, was ich erlebe und was sich mir zuträgt.

Der Ort, an dem sich diese Schlafkammer befindet, ist ganz wunderbar und gleichzeitig etwas seltsam. Die Cité Internationale Universitaire de Paris kann man sich als eine großzügige Campusanlage mit Häusern der unterschiedlichsten Nationen vorstellen, in der 5500 Studierende und einige wenige Forscher aus dem Ausland und teilweise auch aus Frankreich ihre Zeit in Paris verbringen. Angesichts der teilweise wirklich großartigen Architektur, die diese Häuser haben - das Maison Heinrich Heine, aber auch einge andere Häuser sind echte Perlen der 50er Jahre, andere Häuser haben eher einen klassizistischen Stil und versuchen, großbürgerlich zu protzen - wirkt die bunte, laute und sehr lebendige Athmosphäre seltsam unintellektuell. Zwar wird man an allen Ecken und Enden überschüttet mit Theaterabenden , Filmvorführungen, Diskussionrunden und Tanzkursen - doch die Gespräche in der Mensa erinnern einen eher an ein billiges Touristenlokal. Mit viel sportlichen Menschen und einem umtriebigen Verein, der günstige Reisen in die umliegenden europäischen Metropolen sowie günstige Besäufnisse zum Zweck der schnellen und reibungslosen Integration veranstaltet hat die Anlage aber dennoch Ihren Charme - nur eben manchmal eher den eines Youth-Hostels mit Kulturprogramm als den eines Hortes des intensiven internationalen Gedankenaustausches.

Wagt man sich in die umliegenden Straßen - die CIUP liegt im 14. Bezirk, am südlichen Rand der Pariser Innenstadt -, so befindet man sich Richtung Nord-Osten inmitten schwindelerregender Hochhäuser, die unvorstellbare Mengen von Menschen ausspucken und einem vor Augen führen, wie viele Menschen diese Stadt doch hat, in Richtung Nord-Westen dagegen kann man sich (u.a. auf der Allee Samuel Beckett) in Richtung eines netten, belebten und teilweise sehr schönen Viertels vor dem Gare Montpernasse bewegen. Sicherlich ist das nicht gerade das Zentrum der Kreativen und Schönen, aber doch ein Umfeld, in dem es sich durchaus leben lässt - zumal man mit dem RER (einer Art S-Bahn, nur schneller) in 20 Minuten bei Notre-Dame oder am Centre Pompidou ist.

Noch ein paar Worte und Gedanken zum derzeit aktuellen kunstpolitischen Hauptthema. Die freie Theater- und Kunstszene von Paris befindet sich derzeit in Revolutionsstimmung. Grund ist - so weit ich das verstanden habe - so eine Art Vereinbarung (ein Tarifvertrag?) zwischen dem französischen Staat und irgendwelchen Künstlersozialverbänden, der eine massive Einschränkung der Zuwendungen zur Folge haben wird, die freie Künstler hier unter bestimmten Umständen auch ohne aktuell laufende Arbeit erhalten. Diese Woche ist die offizielle Protestwoche, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass man, wenn man ins Theater geht im Anschluss eine kurze Ansprache erhält, im Foyer Unterschriften gesammelt werden und außerdem dutzende Lesungen, Manifeste, Foren etc. veranstaltet werden.

Bei diesen Verlautbarungen gegen die unterzeichnete Vereinbarung wird dann gleich zu sehr prinzipiellem Vokabular gegriffen: Die Freiheit der Kunst sei in Gefahr, es gehe darum, das Wahre, Gute und Schöne zu bewahren, die Alternative, die sich die Regierung wünsche, sei eine reine Kommerzkunst wie "Starmania" o.ä., die automatisch entstünde, wenn man die Kunst einem etwas liberalisisertem Markt aussetzte... Diejenigen Theater, die diesen Vertrag mit unterschrieben haben, seien Kollaborateure und Faschisten... Die Rhethorik erinnert sehr stark an den Münchner ASTA. Auffällig ist, dass unter all diesen rhethorischen Großangriffen kaum herauszufinden ist, worum es denn nun eigentlich konkret geht. Versucht man, sich zu informieren und stellt dabei ein paar kritische Fragen, so kann es einem leicht passieren, dass die Aggressionen, denen man ausgesetzt ist einem das klare Denken etwas verleiden.

Und so eröffnet sich mir die Pariser Kunst- und Theaterszene gleich zu beginn sehr zweischneidig: Einerseits bin ich begeistert und überwältigt von dem unglaublichen Reichtum, der Vielfalt und dem Engagement, das die festen Häuser, aber auch die freie Szene an den Tag legen. Man gerät fast in Panik, weil es einem kaum möglich ist, auch nur irgendwie den Überblick zu behalten. Andererseits fragt man sich schon, ob dieser Reichtum nicht auch ein ziemlicher Luxus ist, der dafür sorgt, dass sich eine insgesamt doch recht kleine Elite in einer bunten und metropoliten Stadt eben auch noch das mehr oder weniger intellektuelle Amüsement leisten kann.

Diese Widersprüchlichkeit findet sich in Paris auf ganz vielen Ebenen. Auch im sozialen Bereich ist es schon sehr auffällig, dass beispielsweise das studentische Leben deutlich mehr subventioniert zu sein scheint, als es bei uns der Fall ist: Unglaubliche Massen von Leuten können in wirklich sehr guten Restaurants zum landesweit einheitlichen Preis von 2,60€ ein komplettes Menü incl. Brot und Wasser verspeisen, die Unis sind riesig und letztlich für jeden zugänglich. Doch dafür sind sie eben auch nicht so gut, die Licence-Kurse sind Veranstaltungen für 40 Leute, die sich von einem Dozenten oder einer Dozentin ins Heft diktieren lassen, brav ihre Hausaufgaben machen und am Ende des Semesters ein Examen schreiben.

Mir scheint, als wäre der berühmte "Reformstau" hier in Frankreich noch viel größer als in Deutschland. Auch scheint der "alte" Widerspruch von rechts und links hier deutlich schärfer und deutlich unüberwindbarer zu sein als bei uns in Deutschland (mag sein, dass es daran liegt, dass sich bei uns eine rot-grüne Regierung mit den notwendigen Reformen abmüht und deshalb zumindest die parteipolitisch organisierte Linke die schwere Kost der Realpolitik mühsam lernen muss, während man in Frankreich als Linker getrost auf die semifaschistoide Regierung schimpfen kann und sich den Traum eines Versorgungsstaates aufrecht erhält. Die Zeichen sind überall: An der Uni ist überall groß plakatiert "Contre le liberalime", es wird zu Solidaritätsmärschen für irgendwelche verschollenen Revolutionsführer mit Rastalocken aufgerufen und mitten im Haupteingang steht - neben einigen Promotion-Leutchen, die Produktproben oder kostenlose Studierendenzeitungen verteilen - ein Kiosk einer Befreiungsorganisation für Palästina, die ohne größere Probleme Israel als faschistischen Staat bezeichnen dürfen.

Die Rechte nehme ich in meinem derzeitigen Umfeld nicht so wahr, was daran liegen mag, dass ich mich mit der Uni und den Theatern in klassischerweise linkem Umfeld bewege, doch in den Zeitungen wird schon klar, dass die Regierung mit ebensogroßer Deutlichkeit reagiert.

Ich bin sehr gespannt, ob sich die finanzielle Not einerseits, die politische Situation andererseits in irgend einer Weise in den künstlerischen Arbeiten, die ich sehe, ausdrücken werden. Bislang habe ich zwei Abende gesehen, die meines Erachtens erstaunlich naiv mit den aktuellen Anlässen umgegangen sind:

Im Theatre Ouvert, dem Centre Dramatique Natonal de Création habe ich eine vom Autor selbst inszenierte Uraufführung gesehen: "Eddy, F. de Pute" (Eddy, der Hurensohn) von Jérôme Robart. Die sehr monströs-krasse Inszenierung dieser freien Bearbeitung des Ödipus-Stoffes versuchte, eine Art schicksalhafte Verknüpfung von monströsen Ereignissen im Leben einer Familie von heute darzustellen. Schattenhaft und ohne große Chance wirkten die Figuren, die entdecken mussten, dass Ihr Vater ein Freier, Ihre Mutter eine Hure und sie selbst nicht mehr als die Ausführer, die Fortsetzung ihrer Eltern sind. Der Sohn findet schließlich die Mutter und schläft ohne es zu wissen mit Ihr, die Tochter wird von einem Freier der Mutter vergewaltigt, der 15 Jahre auf sie gewartet hat und mit der Erkenntnis, dass er das getan hat, nicht umgehen kann und sich die Augen aussticht. Der Sohn tötet bewusst und aus blankem Hass, aus blanker Verzweiflung den Vater und kehrt schließlich als Liebhaber zu seiner Mutter zurück.

Leider war die Inszenierung, ohne, dass man das hätte sinnvoll einordnen können, überladen mit Gewalt, Lärm und Sex, es war eine einzige Orgie eines verletzten Menschen, der sich dem Schicksal ausgeliefert fühlt. Dabei ließ sich jedoch weder eine Haltung zu den Figuren herauslesen noch eine Haltung zu den Umständen, in denen sie sich befinden. Der krasse Hyperrealismus der Inszenierung illustrierte noch die konventionell-dramatische Form des Textes. Man blieb seltsam unbefriedigt zurück.

Im Anschluss an diesen Abend wurde - anstatt die Not der KünstlerInnen wirklich zu erläutern - ein Text von Victor Hugo verlesen, der 1848 vor der franz. Nationalversammlung eine flammende Rede zur Finanzierung der Kunst und der Wissenschaften gehalten hat. Die wie reflexhaft wirkende Protesthaltung gegenüber einem allmächtig wirkenden Staat passte hervorragend zur Massivität, die das Schicksal im Stück gespielt hatte. Mir blieb jedoch der bittere Nachgeschmack übrig, dass diese Haltung gegenüber den "Umständen" dem Staat gerade eine Machtposition zuspielt, die er in einer Demokratie eigentlich gar nicht hat. Der Einfluss, den jeder Bürger und jede Bürgerin auf Ihren Staat hat wurde völlig ignoriert. In der Formel vom schicksalhaften Weltenende, verordnet von einer rohen und ökonomistischen Regierung und verkörpert durch die Umgewöhnung der KünstlerInnen in Frankreich manifestierte sich eine absulute Abwehr gegenüber jedweder Verhandlung über Veränderung.

Die zweite Arbeit, die ich gesehen habe war ein Abschnitt einer längeren Serie: Odelie Darbelley und Michel Jacquelin haben mit "À l'ombre des Pinceaux en Fleurs" den zweiten Teil einer Reihe von Theaterabenden über zeitgenössische Kunst gemacht. Handwerklich sehr gut und wirklich sehr, sehr witzig zogen sie die Attitüden und Spießigkeiten des zeitgenössischen Kunstdiskurses durch den Kakao, "objets trouvés", abstrakte Kunst, minimal Art, Performances mit massiver Materialität und der Arbeit mit Fleisch, Ekel, ..... sowie Videoinstallationen wurden mit einem liebenswürdigen Blick "von innen" als oftmals relativ reflexhaftes Abarbeiten von künstlerischen Floskeln enttarnt.

Überhaupt nicht dazu passen wollte der groß aufgebaute Protesttisch und die Großen Plakate über dem Eingang. Die kritische Haltung gegenüber einer selbstverliebten, selbstreferentiellen Kunstszene blieb völlig in der Luft hängen angesichts dessen, dass gerade bei so einer Aufführung ohne differentiertere Betrachtung für eben diese Kunstszene eine weitere Dauerallimentation gefordert wurde. Mir erscheint dieser Blickwinkel - auch angesichts des Publikums, das beide Vorstellungen besuchte und von Kleidungsstil und Benehmen her weder arm noch ungebildet aussah - fast schon zynisch. In einem staatlichen System, welches kaum mehr funktionsfähig ist, welches an den Ärmsten der Armen sparen muss, weil es sonst aufhört zu funktionieren sonnt sich in meinen Augen hier eine Elite in ihrem eigenen Schein und gefällt sich in ihrem Leid ganz gut.

Ihr seht, meine Gedanken sind derzeit sehr blasphemisch. Bis zu einem gewissen Maße kannte ich das ja schon von München, aber hier scheint mir die Lage noch verfahrener, noch krasser zu sein. Ich bin gespannt, wie sich diese Diskussionen weiter entwickeln werden. Und ich werde ganz frech weiterhin die vielen Vorteile, die ein solches sehr staatlich-zentralistisches System hat, nutzen: billiges, gutes Studentenessen, kostenlose Jugendkarten für die kleinen Theater und eine bunte, reichhaltige Theater- und Kunstszene. Mal sehen, wann mich auch der Teufel des schlechten Gewissens einholt. Wahrscheinlich spätestens beim 2. Europäischen Sozialforum , welches im November in St-Denis, also in meiner Unistadt, stattfindet und welches all diese Fragen sicherlich weiterhin aufflammen lässt.

Bis bald und mit herzlichen Grüßen an alle

Euer

Florian

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Start meiner Berichte als Weblog
Hallo liebe Mit-LeserInnen,

nachdem ich so einen modernen Vater habe bin ich seinem wohlweislichen Rat gefolgt und habe mich entschlossen, meine Paris-Berichte in einem Weblog abzulegen. Das heißt sie sind öffentlich zugänglich und jede/r, der oder die möchte kann Kommentare verfassen. Der Anbieter, bei dem ich diesen Weblog hoste (www.blogger.de) arbeitet mit einer Open-Source-Software und ist nichtkommerziell, so dass im Gegensatz zu Yahoo auch die Werbung wegfällt. Einziger Nachteil - jede(r) von Euch muss selbst gucken, ob ich was neues geschrieben habe. Wer möchte, kann den log aber auch abonnieren und bekommt dann E-Mail-Benachrichtigungen, wenn etwas geändert wurde.

Viel Spaß wünscht Euch

Florian

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