Mittwoch, 3. Dezember 2003
Protestkultur
lemonmuc, 16:28h
Liebe Freundinnen und Freunde, hier eine Mail, die ich auf der Mailingliste der Grünen Jugend gepostet habe und die ich Euch nicht vorenthalten möchte, weil es sehr viel um meine Erfahrungen hier in Frankreich geht:
„Der bislang vermittelte sehr positive Eindruck bezüglich der
tatsächlich sehr ausgeprägten Protestkultur hier in Frankreich scheint
mir deutlich zu optimistisch. Es ist zwar richtig, dass sich auf
vielen Ebenen relativ deutlich sichtbar Widerstand gegen Projekte der
Regierung, gegen den sog. Neoliberalismus bzw. Kapitalismus oder
auch - wie im Falle der Intermittents, also der gelegentlich
Beschäftigten im Theaterbereich - einen Raubbau an der Kultur
formiert. Dieser Widerstand findet jedoch unter völlig anderen
Vorzeichen statt als bei uns in Deutschland: Es gibt große
Unterschiede zwischen den beiden Ländern, sowohl was die aktuelle
politische Lage anbelangt als auch längerfristig gewachsene
Traditionen im politischen und kulturellen System betreffend.
Ich möchte mit ersteren beginnen: Frankreichs zentralistische
Ausrichtung, die im Vergleich zur deutschen Geschichte relativ
bruchlose Kontinuität vieler Institutionen, oft seit dem späten 18.
Jahrhundert und über die Grenzen der verschiedenen Verfassungsentwürfe
und Regime hinweg - seien es die Elitebildungsanstalten wie die
"Grands Ecoles" oder die die "Ecoles Normales Superieures", seien es
die Kultur beschränkende und kontrollierende Einrichtungen wie die
"Academie Francaise" -, der alle Gesellschaftsschichten durchdringende
und sehr realitätsferne Glaube daran, dass im französischen Staat
"Liberté, Egalité, Fraternité" verwirklicht seien und die damit
sicherlich verbundene Ablehnung jeglicher Fakten, die diese
Nationalkonstruktion bedrohen - all diese Faktoren und sicherlich eine
Reihe weiterer, sehr "weicher", kultureller Faktoren führen meinem
Eindruck nach dazu, dass es im Vergleich zu Deutschland in fast allen
Bereichen des öffentlichen Lebens sehr viel festere Strukturen und
Hierarchien gibt. Das fängt mit der sehr klar gegliederten
geographischen Aufteilung an, die das Land in eine mehr oder minder
unbedeutende Provinz, eine große No-Go-Area namens "Banlieu" und die
metropolitane Spitze von Paris segregiert, das setzt sich fort in
einer sehr klaren und fast allen Franzosen geläufigen Aufteilung der
höheren Bildungseinrichtungen in profane Universitäten (an denen die
leider vom öffentlichen Leben fast abgeschnittene Studierenden und
Lehrenden mit sehr egalitären Einrichtungen wie billiger und guter
Mensa abgespeist werden), höhere Lehranstalten und wahre
Eliteschmieden (es gibt kaum jemanden in Frankreich, der Karriere
macht aber nicht irgendeine dieser Ausbildungsgänge absolviert hat),
in einem Kultursystem, bei dem der Staat unglaubliche Summen in die
Produktion von "hoher Kunst" investiert... Die Reihe ließe sich
beliebig fortsetzen, egal ob man die Aufteilung des Mediensektors
anschaut, die Art und Weise, wie Prof und Studi miteinander umgehen,
etc. Ich hoffe, dieser subjektive Eindruck reicht erst Mal, um zu
verstehen, was ich meine.
Diese starke Segregation betrifft nun auch das politische System.
Dieses kann zwar mit einer erheblich weiteren Spanne von Meinungen
aufwarten - im Vergleich zu dem, was hier an
marxistisch-leninistischen, revisionistischen, kommunitaristischen,
liberalistischen, aristokratischen .... Positionen öffentlich
vorgetragen wird und institutionell repräsentiert ist kommt einem die
politische Landschaft in Deutschland langweilig und beinahe konsensual
vor -, doch andererseits stabilisieren sich diese gegeneinander
gerichteten Kräfte zu einem insgesamt sehr schwerfälligen und
reformunwilligen Gesamtsystem.
In diesem Licht betrachtet erscheint mir bei die tatsächlich zu
beobachtende Streit- und Protestkultur wie ein grotesker Tanz auf den
Mauern eines archaisch-aristokratischen Systems. Die Linke - und damit
meine ich jetzt mal den ganzen Schwung von den KommunistInnen über die
SozialistInnenen bis zu den Ökos und den GlobalisierungsgegnerInnen -
hat sich in diesem System relativ ungemütlich (weil permanent
protestierend) aber durchaus stabil und selbsterhaltend eingerichtet.
Letztlich werden die hier wirklich alles erstickenden Bürokratismen,
jedoch auch die hanebüchende Ökobilanz dieses Landes und die jede
private Regung erstickende Gleichmacherei, verknüpft mit einem sehr
stabilen System sich im Hintergrund permanent reproduzierender
Eliten - werden all diese wirklich hemmenden Zustände von allen
akzeptiert.
Speziell die Bildungsproteste erscheinen mir durch die Sicht von außen
als unglaublich spießig, eigentlich sogar archaisch. Denn das System,
das hier verteidigt wird, zeichnet sich durch alles aus, was man von
einem Bildungssystem nicht möchte: Miserable soziale
Migrationsmöglichkeiten, völlig didaktikfreie Kultur des gesprochenen
Wortes, sich gegenseitig kaum wahrnehmende Einiglung innerhalb der
einzelnen Disziplinen, Verschulung - und bei alldem ökonomische
Ineffizienz, die sich in steigenden Defiziten äußert. Die Argumente
mit denen hier das System verteidigt wird sind seltsamerweise die
selben wie die in Deutschland, obwohl die geplanten Veränderungen
exakt konträr sind: Während es in Deutschland beim Bologna-Prozess um
die Aufteilung extrem langer und bislang sehr frei gestalteter
Abschlüsse geht, verteidigen die Franzosen ihr extrem partagiertes
System, das schon ein Jahre nach dem Abi den ersten Abschluss verleiht
(DEUG), dann noch zwei höhere Abschlüsse (Licence Abi+3 Jahre,
Maîtrise Abi+4 Jahre) und vor den Doktor noch eine Art Vordokter
schiebt (DEA, Abi +5 Jahre). In beiden Fällen heißt das Argument
seltsamerweise "Bewahrung des unverwechselbaren und freien Charakters
der Universität - Bildung ist keine Ware". Und der Kampf gegen mehr
Konkurrenz (egal ob zwischen den französischen Universitäten oder
innerhalb Europas) verdeckt, dass das jetzige System so inegalitär ist
wie man es sich nur vorstellen kann und zudem diese Ungleichheit
hinter einem intransparenten System versteckt. Die Frage ist, ob nicht
ein klarer definierter, nach außen offener Leistungswettbewerb,
verbunden mit gezielten Fördermaßnahmen für Kinder bildungsferner
Familien nicht deutlich mehr Gleichheit schaffen würde als ein
angeblich egalitäres System, das leider nicht berücksichtigt, dass man
als Einwanderersprössling weder die finanziellen noch die kulturellen
Voraussetzungen mitbringt um die langwierige Vorbereitungszeit und die
diffizilen Auswahlverfahren durchzustehen, die den Weg in die
Eliteschulen ebnen.
Der distanzierte Blick hier auf das französische System lässt bei mir
eigentlich kaum eine Begeisterung für die Protestkultur entstehen.
Vielmehr zweifle ich langsam auch an den einfachen Lösungen, die in
der deutschen Bildungsdiskussion lanciert werden.“
„Der bislang vermittelte sehr positive Eindruck bezüglich der
tatsächlich sehr ausgeprägten Protestkultur hier in Frankreich scheint
mir deutlich zu optimistisch. Es ist zwar richtig, dass sich auf
vielen Ebenen relativ deutlich sichtbar Widerstand gegen Projekte der
Regierung, gegen den sog. Neoliberalismus bzw. Kapitalismus oder
auch - wie im Falle der Intermittents, also der gelegentlich
Beschäftigten im Theaterbereich - einen Raubbau an der Kultur
formiert. Dieser Widerstand findet jedoch unter völlig anderen
Vorzeichen statt als bei uns in Deutschland: Es gibt große
Unterschiede zwischen den beiden Ländern, sowohl was die aktuelle
politische Lage anbelangt als auch längerfristig gewachsene
Traditionen im politischen und kulturellen System betreffend.
Ich möchte mit ersteren beginnen: Frankreichs zentralistische
Ausrichtung, die im Vergleich zur deutschen Geschichte relativ
bruchlose Kontinuität vieler Institutionen, oft seit dem späten 18.
Jahrhundert und über die Grenzen der verschiedenen Verfassungsentwürfe
und Regime hinweg - seien es die Elitebildungsanstalten wie die
"Grands Ecoles" oder die die "Ecoles Normales Superieures", seien es
die Kultur beschränkende und kontrollierende Einrichtungen wie die
"Academie Francaise" -, der alle Gesellschaftsschichten durchdringende
und sehr realitätsferne Glaube daran, dass im französischen Staat
"Liberté, Egalité, Fraternité" verwirklicht seien und die damit
sicherlich verbundene Ablehnung jeglicher Fakten, die diese
Nationalkonstruktion bedrohen - all diese Faktoren und sicherlich eine
Reihe weiterer, sehr "weicher", kultureller Faktoren führen meinem
Eindruck nach dazu, dass es im Vergleich zu Deutschland in fast allen
Bereichen des öffentlichen Lebens sehr viel festere Strukturen und
Hierarchien gibt. Das fängt mit der sehr klar gegliederten
geographischen Aufteilung an, die das Land in eine mehr oder minder
unbedeutende Provinz, eine große No-Go-Area namens "Banlieu" und die
metropolitane Spitze von Paris segregiert, das setzt sich fort in
einer sehr klaren und fast allen Franzosen geläufigen Aufteilung der
höheren Bildungseinrichtungen in profane Universitäten (an denen die
leider vom öffentlichen Leben fast abgeschnittene Studierenden und
Lehrenden mit sehr egalitären Einrichtungen wie billiger und guter
Mensa abgespeist werden), höhere Lehranstalten und wahre
Eliteschmieden (es gibt kaum jemanden in Frankreich, der Karriere
macht aber nicht irgendeine dieser Ausbildungsgänge absolviert hat),
in einem Kultursystem, bei dem der Staat unglaubliche Summen in die
Produktion von "hoher Kunst" investiert... Die Reihe ließe sich
beliebig fortsetzen, egal ob man die Aufteilung des Mediensektors
anschaut, die Art und Weise, wie Prof und Studi miteinander umgehen,
etc. Ich hoffe, dieser subjektive Eindruck reicht erst Mal, um zu
verstehen, was ich meine.
Diese starke Segregation betrifft nun auch das politische System.
Dieses kann zwar mit einer erheblich weiteren Spanne von Meinungen
aufwarten - im Vergleich zu dem, was hier an
marxistisch-leninistischen, revisionistischen, kommunitaristischen,
liberalistischen, aristokratischen .... Positionen öffentlich
vorgetragen wird und institutionell repräsentiert ist kommt einem die
politische Landschaft in Deutschland langweilig und beinahe konsensual
vor -, doch andererseits stabilisieren sich diese gegeneinander
gerichteten Kräfte zu einem insgesamt sehr schwerfälligen und
reformunwilligen Gesamtsystem.
In diesem Licht betrachtet erscheint mir bei die tatsächlich zu
beobachtende Streit- und Protestkultur wie ein grotesker Tanz auf den
Mauern eines archaisch-aristokratischen Systems. Die Linke - und damit
meine ich jetzt mal den ganzen Schwung von den KommunistInnen über die
SozialistInnenen bis zu den Ökos und den GlobalisierungsgegnerInnen -
hat sich in diesem System relativ ungemütlich (weil permanent
protestierend) aber durchaus stabil und selbsterhaltend eingerichtet.
Letztlich werden die hier wirklich alles erstickenden Bürokratismen,
jedoch auch die hanebüchende Ökobilanz dieses Landes und die jede
private Regung erstickende Gleichmacherei, verknüpft mit einem sehr
stabilen System sich im Hintergrund permanent reproduzierender
Eliten - werden all diese wirklich hemmenden Zustände von allen
akzeptiert.
Speziell die Bildungsproteste erscheinen mir durch die Sicht von außen
als unglaublich spießig, eigentlich sogar archaisch. Denn das System,
das hier verteidigt wird, zeichnet sich durch alles aus, was man von
einem Bildungssystem nicht möchte: Miserable soziale
Migrationsmöglichkeiten, völlig didaktikfreie Kultur des gesprochenen
Wortes, sich gegenseitig kaum wahrnehmende Einiglung innerhalb der
einzelnen Disziplinen, Verschulung - und bei alldem ökonomische
Ineffizienz, die sich in steigenden Defiziten äußert. Die Argumente
mit denen hier das System verteidigt wird sind seltsamerweise die
selben wie die in Deutschland, obwohl die geplanten Veränderungen
exakt konträr sind: Während es in Deutschland beim Bologna-Prozess um
die Aufteilung extrem langer und bislang sehr frei gestalteter
Abschlüsse geht, verteidigen die Franzosen ihr extrem partagiertes
System, das schon ein Jahre nach dem Abi den ersten Abschluss verleiht
(DEUG), dann noch zwei höhere Abschlüsse (Licence Abi+3 Jahre,
Maîtrise Abi+4 Jahre) und vor den Doktor noch eine Art Vordokter
schiebt (DEA, Abi +5 Jahre). In beiden Fällen heißt das Argument
seltsamerweise "Bewahrung des unverwechselbaren und freien Charakters
der Universität - Bildung ist keine Ware". Und der Kampf gegen mehr
Konkurrenz (egal ob zwischen den französischen Universitäten oder
innerhalb Europas) verdeckt, dass das jetzige System so inegalitär ist
wie man es sich nur vorstellen kann und zudem diese Ungleichheit
hinter einem intransparenten System versteckt. Die Frage ist, ob nicht
ein klarer definierter, nach außen offener Leistungswettbewerb,
verbunden mit gezielten Fördermaßnahmen für Kinder bildungsferner
Familien nicht deutlich mehr Gleichheit schaffen würde als ein
angeblich egalitäres System, das leider nicht berücksichtigt, dass man
als Einwanderersprössling weder die finanziellen noch die kulturellen
Voraussetzungen mitbringt um die langwierige Vorbereitungszeit und die
diffizilen Auswahlverfahren durchzustehen, die den Weg in die
Eliteschulen ebnen.
Der distanzierte Blick hier auf das französische System lässt bei mir
eigentlich kaum eine Begeisterung für die Protestkultur entstehen.
Vielmehr zweifle ich langsam auch an den einfachen Lösungen, die in
der deutschen Bildungsdiskussion lanciert werden.“
... link (0 Kommentare) ... comment
Sonntag, 23. November 2003
Gegensätze
lemonmuc, 12:44h
Wenn man an Paris denkt, dann denkt man wohl am ehesten an
alterwürdige Kulturdenkmäler, eine der reichsten Kunstszenen der Welt,
hohe Schule, kleine, feine, teure Cafés, Prêt-A-Porter, ....
Und tatsächlich findet sich diese seltsame Mischung aus
oferflächlicher Vitalität und erstarrter Grundstruktur fast überall im
Stadtzentrum. Mir scheint es, als hätten die Menschen Masken, würden
starr durch die Gegend laufen, sich unglaublich cool und kultiviert
vorkommen. Und mir scheint es, als wäre es ein Totentanz, ein Tanz
grotesker Masken auf einem Stadtmoloch, das kurz vor dem Untergang
steht.
Denn vor den Toren dieser Stadt ballen sich fast 9 Millionen Menschen,
die teilweise (das hängt natürlich sehr davon ab, in welchen Banlieu
man fährt) in völlig unvorstellbarer Weise vom öffentlichen Leben der
Metropole abgeschnitten sind, die als Einwanderer und Arbeiter, als
eigene Minderheitenkulturen vor sich hinleben, ohne größere Chancen zu
haben, jemals am kulturellen, politischen oder sozialen Leben dieser
Stadt angemessen teilzuhaben.
Paris 8, die Uni, an der ich studiere, gilt nicht als besonders gute
Universität. Das hat seine Gründe: Sie ist mehr oder minder
sozialistisch-kommunistisch geprägt, hat einen unglaublich großen
Anteil an ausländischen Studierenden (wir sind in vielen Seminaren in
der Mehrheit!) und liegt in Saint-Denis. Diese Vorstadt ist eine der
krassesten Trabantenstädte von Paris mit einer Sozialstruktur, die
sich ein Großteil der Pariser Innenstadtbevölkerung glaube ich kaum
vorstellen kann. Und persönliche Erfahrungen macht man wohl kaum
damit - wenn man von diesem Studienort erzählt, erntet man nur
ungläubiges Staunen, ob man dort denn überhaupt überleben könne.
Trotz allem ist Paris 8 eine Pariser Universität, und in bestimmten
Fachgebieten - beispielsweise zeitgenössischem Tanz - gilt sie als
eine der besseren. Diese seltsame Mehrfachbesetzung eines einzigen
Ortes mit verschiedenen sozialen Klassifikationen findet sogar in der
Stadtplanung und der Bezifferung der Tarifzonen für den ÖPNV ihren
Ausdruck:
Saint-Denis liegt im Norden von Paris - von diesem getrennt durch die
Ringstraße um die Stadt (Boulevard Périphérique) herum und eine Art
Niemandsland zwischen dieser Straße und dem Stade de France, einem
riesigen Sportstadion. Die Universität wiederum liegt wieder im Norden
von Saint-Denis. Direkt zu dieser Universität fährt eine U-Bahn-Linie
aus dem Zentrum von Paris, die bezeichnenderweise die Nr. 13 trägt und
ihre Endhaltestelle direkt gegenüber des Uni-Eingangs hat. Polemisch
könnte man sagen, dass die Pariser StudentInnen eingekapselt in Ihre
Bahn unter dem ganzen Elend von Saint-Denis hindurchgekarrt werden, um
dann wie in einer Blase auf der anderen Seite wieder aufzutauchen und
dort ihre intelektuelle Bildung zu erhalten, ohne in größeren Kontakt
mit Saint-Denis gekommen zu sein. Bestätigt wird dieser Eindruck durch
die Tatsache, dass die Uni zwar in der Tarifzone 3 liegt, mit der
U-Bahn aber noch mit der billigeren Tarifzone 2 zu erreichen ist. Die
meisten Studierenden haben also nicht einmal die Fahrkarte, um sich
innerhalb von Saint-Denis mit Bus oder Tram zu bewegen.
Dadurch, dass die Maîtrise- und DEA-Veranstaltungen in Theater nicht
an der Universität selbst stattfinden, sondern im "Maison des Sciences
des Hommes, Paris Nord", welches sich in oben angesprochenem
Niemandsland befindet und durch das europäische Sozialforum begann
ich, etwas die Stadt Saint-Denis selbst zu erforschen. Es eröffnet
sich einem eine Welt, die man sich in wenigen Kilometer Entfernung der
Metropole des "alten Europa" nie vorgestellt hätte: Ein großes,
verschachteltes Einkaufs- und Kommerzzentrum, in dem neben den großen
Ketten auch einige türkische, arabische und griechische Läden und
Restaurants verstreut sind liegt neben einer alten Markthalle. In und
um diese findet sich ein Treiben, das in dieser Buntheit, Lautstärke,
Intensität und Diversität ohne Probleme auch in Istanbul oder Agadir
stattfinden könnte. Man begegnet Taschenspielern und Marktschreiern,
bettelnden Frauen, die fast heulend versuchen, einem etwas Geld
abzuknöpfen. Obwohl ein guter Teil der Bevölkerung muslimisch ist kann
man nicht einfach von einem Araber- oder Türkenghetto sprechen, dafür
ist es wieder zu durchmischt. Man findet z.B. auch eine ganze Menge
Asiaten, Griechen, Osteuropäer, Menschen zentralafrikanischen
Ursprungs, ...
Anders als in bloßen Ghettovierteln der großen Städte handelt es sich
also bei Saint-Denis nicht einfach um eine Bettenburg aus Hochhäusern,
sondern um eine eigenständige urbane Struktur mit einem kulturellen
und öffentlichen Leben, das von dem in der nebenan gelegenen
Hauptstadt fast völlig abgeschnitten zu sein scheint. Durch das System
der Elite-Hochschulen, in denen nach Herkunft, intelektuellem
Hintergrund und finanzieller Ausstattung sehr früh selektiert wird,
wer es in Politik, Kultur und öffentlichem Leben in Frankreich einmal
zu etwas bringen wird sind all diese Menschen nahezu völlig
abgekapselt. Und es entwickeln sich Hybrid-Kulturen, die nicht nur für
die einzelnen Menschen, die in diesen Kulturen leben teilweise
unmenschlich sind (finanzielle Mittel, Gewalt v.a. gegen Frauen,
Spannungen zwischen stark religiösem Lebensstil und laizistischem
Staat), sondern die auch eine Gefahr für das Funktionieren des
gesamten staatlichen Systems darstellen: Man zieht sich eine riesige
Menge von Menschen heran, die kaum in die Diskussionsprozesse
integriert sind und sich dementsprechend als Gegner des Systems
verstehen. Kein Wunder, dass es an Anti-Bewegungen, Streiks,
Solidaritätsaktionen etc. nicht mangelt, die aber allesamt in der
dichotomischen Rethorik eines "Kampf gegen ..." steckenbleiben und
sehr selten von wirklich konstruktiver, gemeinsamer Suche nach
Lösungen durchdrungen sind (Ausnahme ist vielleicht die "neue
Frauenbewegung", die wohl versucht, eher integrativ vorzugehen und auf
die Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund
aufmerksam machen möchte).
Die Universität bildet hier m.E. leider auch keine rühmliche Ausnahme.
Irgendwie erscheinen mir gerade die sich kommunistisch gebenden
Professoren völlig von der Realität abgehoben, verliebt in Ihre
Theorien, Ihre Poesie, blind für die krassen sozialen Mechanismen, die
sich in ihrer direkten Umgebung abspielen.
Ein deutlich positiveres Beispiel fand ich durch die Hilfe von Dina
Keller(vielen lieben Dank dafür!), Regiestudentin aus München, die bei
einer Produktion einer Theatergruppe assistiert hat, die in
Saint-Denis, genau in diesem Niemandsland, nur wenige Straßen weg vom
Maison des Sciences des Hommes Paris Nord einen alten
Veranstaltungssaal wieder zum Leben erweckt hat mit einer Inszenierung
von Shakespeares Sturm. Diese Arbeit ist sehr bemerkenswert, vor allem
deswegen, weil die Regisseurin Barbara Bouley es versteht, die
verschiedensten Menschen (Profischauspieler aus Frankreich, aus
Kamerun, jugendliche Laiendarsteller aus dem Viertel und zwei
Senioren) so zusammenzubringen, dass man nicht das Gefühl hat, sie
würden bevormundet, sonder merkt, dass sie sich diesen Raum, diese
Möglichkeit, zusammen zu arbeiten und die Formen, die dabei
herauskamen hart erarbeitet haben. (wer es sich ansehen will:
"Tempêtes", Création théâtrale de la compagnie "Un Excursus" librement
inspirée de l'oeuvre de Shakespeare, Assemblage et scénographie:
Barbara Bouley, du 20/11/03 jusqu'au 06/12/03, uniquement les jeudi,
vendredi et samdi à 20h30, le dimanche à 16h30, Sall des Fêtes
WILSON - 120, av. du Pt Wilson - Imp. St Just St-Denis-Plaine (93),
Axe Porte de la Chapelle/Stade de France - 10 mn à pied de la Prte de
la Chapelle (Métro no 12, Prote de la Chapelle, Bus No 153 ou 302
arrêt Eglise de la Plaine ou alternativement RER B, La Pleine Stade de
France), Reservation 01 49 33 66 53, 9-18h)
Für heute soll hier Schluss sein, ich möchte mich bemühen in Zukunft
öfter und dafür vielleicht nicht so formvollendet zu schreiben... also
bis möglichst bald
alterwürdige Kulturdenkmäler, eine der reichsten Kunstszenen der Welt,
hohe Schule, kleine, feine, teure Cafés, Prêt-A-Porter, ....
Und tatsächlich findet sich diese seltsame Mischung aus
oferflächlicher Vitalität und erstarrter Grundstruktur fast überall im
Stadtzentrum. Mir scheint es, als hätten die Menschen Masken, würden
starr durch die Gegend laufen, sich unglaublich cool und kultiviert
vorkommen. Und mir scheint es, als wäre es ein Totentanz, ein Tanz
grotesker Masken auf einem Stadtmoloch, das kurz vor dem Untergang
steht.
Denn vor den Toren dieser Stadt ballen sich fast 9 Millionen Menschen,
die teilweise (das hängt natürlich sehr davon ab, in welchen Banlieu
man fährt) in völlig unvorstellbarer Weise vom öffentlichen Leben der
Metropole abgeschnitten sind, die als Einwanderer und Arbeiter, als
eigene Minderheitenkulturen vor sich hinleben, ohne größere Chancen zu
haben, jemals am kulturellen, politischen oder sozialen Leben dieser
Stadt angemessen teilzuhaben.
Paris 8, die Uni, an der ich studiere, gilt nicht als besonders gute
Universität. Das hat seine Gründe: Sie ist mehr oder minder
sozialistisch-kommunistisch geprägt, hat einen unglaublich großen
Anteil an ausländischen Studierenden (wir sind in vielen Seminaren in
der Mehrheit!) und liegt in Saint-Denis. Diese Vorstadt ist eine der
krassesten Trabantenstädte von Paris mit einer Sozialstruktur, die
sich ein Großteil der Pariser Innenstadtbevölkerung glaube ich kaum
vorstellen kann. Und persönliche Erfahrungen macht man wohl kaum
damit - wenn man von diesem Studienort erzählt, erntet man nur
ungläubiges Staunen, ob man dort denn überhaupt überleben könne.
Trotz allem ist Paris 8 eine Pariser Universität, und in bestimmten
Fachgebieten - beispielsweise zeitgenössischem Tanz - gilt sie als
eine der besseren. Diese seltsame Mehrfachbesetzung eines einzigen
Ortes mit verschiedenen sozialen Klassifikationen findet sogar in der
Stadtplanung und der Bezifferung der Tarifzonen für den ÖPNV ihren
Ausdruck:
Saint-Denis liegt im Norden von Paris - von diesem getrennt durch die
Ringstraße um die Stadt (Boulevard Périphérique) herum und eine Art
Niemandsland zwischen dieser Straße und dem Stade de France, einem
riesigen Sportstadion. Die Universität wiederum liegt wieder im Norden
von Saint-Denis. Direkt zu dieser Universität fährt eine U-Bahn-Linie
aus dem Zentrum von Paris, die bezeichnenderweise die Nr. 13 trägt und
ihre Endhaltestelle direkt gegenüber des Uni-Eingangs hat. Polemisch
könnte man sagen, dass die Pariser StudentInnen eingekapselt in Ihre
Bahn unter dem ganzen Elend von Saint-Denis hindurchgekarrt werden, um
dann wie in einer Blase auf der anderen Seite wieder aufzutauchen und
dort ihre intelektuelle Bildung zu erhalten, ohne in größeren Kontakt
mit Saint-Denis gekommen zu sein. Bestätigt wird dieser Eindruck durch
die Tatsache, dass die Uni zwar in der Tarifzone 3 liegt, mit der
U-Bahn aber noch mit der billigeren Tarifzone 2 zu erreichen ist. Die
meisten Studierenden haben also nicht einmal die Fahrkarte, um sich
innerhalb von Saint-Denis mit Bus oder Tram zu bewegen.
Dadurch, dass die Maîtrise- und DEA-Veranstaltungen in Theater nicht
an der Universität selbst stattfinden, sondern im "Maison des Sciences
des Hommes, Paris Nord", welches sich in oben angesprochenem
Niemandsland befindet und durch das europäische Sozialforum begann
ich, etwas die Stadt Saint-Denis selbst zu erforschen. Es eröffnet
sich einem eine Welt, die man sich in wenigen Kilometer Entfernung der
Metropole des "alten Europa" nie vorgestellt hätte: Ein großes,
verschachteltes Einkaufs- und Kommerzzentrum, in dem neben den großen
Ketten auch einige türkische, arabische und griechische Läden und
Restaurants verstreut sind liegt neben einer alten Markthalle. In und
um diese findet sich ein Treiben, das in dieser Buntheit, Lautstärke,
Intensität und Diversität ohne Probleme auch in Istanbul oder Agadir
stattfinden könnte. Man begegnet Taschenspielern und Marktschreiern,
bettelnden Frauen, die fast heulend versuchen, einem etwas Geld
abzuknöpfen. Obwohl ein guter Teil der Bevölkerung muslimisch ist kann
man nicht einfach von einem Araber- oder Türkenghetto sprechen, dafür
ist es wieder zu durchmischt. Man findet z.B. auch eine ganze Menge
Asiaten, Griechen, Osteuropäer, Menschen zentralafrikanischen
Ursprungs, ...
Anders als in bloßen Ghettovierteln der großen Städte handelt es sich
also bei Saint-Denis nicht einfach um eine Bettenburg aus Hochhäusern,
sondern um eine eigenständige urbane Struktur mit einem kulturellen
und öffentlichen Leben, das von dem in der nebenan gelegenen
Hauptstadt fast völlig abgeschnitten zu sein scheint. Durch das System
der Elite-Hochschulen, in denen nach Herkunft, intelektuellem
Hintergrund und finanzieller Ausstattung sehr früh selektiert wird,
wer es in Politik, Kultur und öffentlichem Leben in Frankreich einmal
zu etwas bringen wird sind all diese Menschen nahezu völlig
abgekapselt. Und es entwickeln sich Hybrid-Kulturen, die nicht nur für
die einzelnen Menschen, die in diesen Kulturen leben teilweise
unmenschlich sind (finanzielle Mittel, Gewalt v.a. gegen Frauen,
Spannungen zwischen stark religiösem Lebensstil und laizistischem
Staat), sondern die auch eine Gefahr für das Funktionieren des
gesamten staatlichen Systems darstellen: Man zieht sich eine riesige
Menge von Menschen heran, die kaum in die Diskussionsprozesse
integriert sind und sich dementsprechend als Gegner des Systems
verstehen. Kein Wunder, dass es an Anti-Bewegungen, Streiks,
Solidaritätsaktionen etc. nicht mangelt, die aber allesamt in der
dichotomischen Rethorik eines "Kampf gegen ..." steckenbleiben und
sehr selten von wirklich konstruktiver, gemeinsamer Suche nach
Lösungen durchdrungen sind (Ausnahme ist vielleicht die "neue
Frauenbewegung", die wohl versucht, eher integrativ vorzugehen und auf
die Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund
aufmerksam machen möchte).
Die Universität bildet hier m.E. leider auch keine rühmliche Ausnahme.
Irgendwie erscheinen mir gerade die sich kommunistisch gebenden
Professoren völlig von der Realität abgehoben, verliebt in Ihre
Theorien, Ihre Poesie, blind für die krassen sozialen Mechanismen, die
sich in ihrer direkten Umgebung abspielen.
Ein deutlich positiveres Beispiel fand ich durch die Hilfe von Dina
Keller(vielen lieben Dank dafür!), Regiestudentin aus München, die bei
einer Produktion einer Theatergruppe assistiert hat, die in
Saint-Denis, genau in diesem Niemandsland, nur wenige Straßen weg vom
Maison des Sciences des Hommes Paris Nord einen alten
Veranstaltungssaal wieder zum Leben erweckt hat mit einer Inszenierung
von Shakespeares Sturm. Diese Arbeit ist sehr bemerkenswert, vor allem
deswegen, weil die Regisseurin Barbara Bouley es versteht, die
verschiedensten Menschen (Profischauspieler aus Frankreich, aus
Kamerun, jugendliche Laiendarsteller aus dem Viertel und zwei
Senioren) so zusammenzubringen, dass man nicht das Gefühl hat, sie
würden bevormundet, sonder merkt, dass sie sich diesen Raum, diese
Möglichkeit, zusammen zu arbeiten und die Formen, die dabei
herauskamen hart erarbeitet haben. (wer es sich ansehen will:
"Tempêtes", Création théâtrale de la compagnie "Un Excursus" librement
inspirée de l'oeuvre de Shakespeare, Assemblage et scénographie:
Barbara Bouley, du 20/11/03 jusqu'au 06/12/03, uniquement les jeudi,
vendredi et samdi à 20h30, le dimanche à 16h30, Sall des Fêtes
WILSON - 120, av. du Pt Wilson - Imp. St Just St-Denis-Plaine (93),
Axe Porte de la Chapelle/Stade de France - 10 mn à pied de la Prte de
la Chapelle (Métro no 12, Prote de la Chapelle, Bus No 153 ou 302
arrêt Eglise de la Plaine ou alternativement RER B, La Pleine Stade de
France), Reservation 01 49 33 66 53, 9-18h)
Für heute soll hier Schluss sein, ich möchte mich bemühen in Zukunft
öfter und dafür vielleicht nicht so formvollendet zu schreiben... also
bis möglichst bald
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 7. November 2003
lemonmuc, 19:14h
Werte Freundinnen und Freunde,
bevor ich in wenigen Stunden das Theater Nanterre-Amandiers besuche,
um mir eine zeitgenössische Medea-Version anzusehen möchte ich noch
kurz über die beiden anderen Aufführungen berichten, um gar nicht erst
in Verzug zu geraten mit meinem Versprechen, das, was ich hier sehe,
auch weiterzugeben.
Lasst Euch also berichten von "Faust ou la fête electrique" von
Gertrude Stein im Théâtre de la Villette (Compagnie Les Endimanchés,
Inszenierung und Musik: Alexis Forestier) und von "P. #06 Paris.
Tragedia endogonidia - VI Episode" von Romeo Castellucci im Odéon,
Théâtre de l'Europe aux Atheliers Berhier.
Beide Abende haben viel gemeinsam: Sie beziehen sich beide Texte,
deren kulturelle Bedeutung weit über die jeweilige schriftlich
fixierte Originalversion hinausgeht, deren Handlungsmotive längst
Allgemeingut geworden sind. In einem Fall spreche ich von Faust, im
anderen Fall von biblischen wie antik-griechischen Mythen bzw.
Geschichten (Abraham und Isaak, Oedipus, Jesus Christus). Beide
versuchen, diese alten Motive in abgewandelter Form dafür zu
verwenden, heutige Deutungen zu liefern und so in einem Fall eine
Studie über das postmoderne Subjekt, im anderen Fall eine politische
Tragödie für die heutige Zeit zu konstruieren.
Der Text "Faust ou la fête electrique" variiert und perpetuiert in
immer gleichen, zu Floskeln erstarrten Formulierungen mehrere
abgewandelte Handlungsmotive aus Faust I und II. Faust ist
gelangweilt. Er weiß alles, doch nicht befriedigt ihn. Er hat das
elektrische Licht erfunden und so der Menschheit unglaubliche
Bereicherung gebracht - doch bleibt ihm tiefere Erkenntnis versagt. Im
Unterschied zur Goetheschen Version ist an dieser Stelle aber auch der
Pakt mit Mephisto schon vorbei. Die moralische Verfehlung hat längst
Ihren Reiz verloren.
Mephisto selbst ist machtlos. Er klagt Faust an, ihn betrogen zu
haben, indem er ihm eine Seele versprochen hätte, die er, Faust, gar
nie besessen habe. Faust kann den Triumpf jedoch nicht genießen.
Vielmehr verlangt er mit großer Sehnsucht nach einer Seele, um mit ihr
in die Hölle gehen zu können. Um wenigstens diesen Beweis einer
Echtheit, einer Realität, einer Erkenntnis zu erlangen, tötet er den
Schüler und den Hund, die in seiner Studierstube Unterschlupf gefunden
haben. Das Projekt bleibt erfolglos.
Verwoben ist diese Zustandsbeschreibung des modernen, sinnentleerten
Subjekts mit einer anderen Figur, einer Frauenfigur mit zwei Namen:
"Margarethe Ida und Helèn Annabel". Dieses Wesen, das immer wieder
diese beiden Namen widerholt und dem die Übereinstimmung einer dieser
Identitäten mit sich selbt verweigert wird kommt zu Faust, da es von
einer Viper gebissen wurde. Faust kann jedoch keine Hilfe leisten, und
Margarethe Ida und Helèn Annabel stirbt, erstummt und erstarrt. Die
Inszenierung lässt die Viper in Gestalt eines bürgerlichen
Klischeeehemanns auftauchen und inszeniert den Tod als Weg in ein
trautes Wohnzimmeridyll.
Der Untertitel des Stückes "opéra fait pour être chanté" wird für
Alexis Forestier zum Programm: Er hat das gesammte Stück mit Musik
versehen. Es ist ein Musikversuch, eine Musikverhinderung. An Kurt
Weil erinnernde Instrumentarien ratschen und versuchen, eine
durchgehende Melodie, eine Gesangslinie zu erzeugen - doch scheitern
sie daran. Die immer wieder wiederholten Textzeilen sind kunstvoll
ineinandergewebt als ständiges Rauschen stockender Schallplatten. Die
Anklänge an Kurt Weil, an das Brechtsche Aufklärungstheater, an den
Überzeugungsgeist der Faust-Tragödie, an die Möglichkeit zumindest
einer Erotik, die auch ohne Ziel, ohne Bestimmung bleibt - dieses Netz
an Verweisen spielt sich ab in einem Raum, der vollgestopft ist mit
riesigen Metallteilen, Bögen, Stangen, Stühlen, Tischen - und
ausschließlich mit Glühbirnen erhellt wird. Diese Metallteile
strukturieren den Abend, denn sie befinden sich in ständigen Bewegung
und lassen eine sinnlose Bühnenmaschinerie ablaufen, die die Menschen
nur noch wie einen Nachklang ihrer selbst bestehen lässt.
Leider wirkt diese mechanische Abarbeitung der Prozesse wie ein
Sinnbild für die ganze Arbeit: Sorgsam ausgesuchte Versatzstücke der
Postmoderne, der Subjektkritik werden kunstvoll angeordnet und
abgeschnurrt. Die Poesie, die Wehmut, die Fragilität der Stein-Texte
wird dabei völlig untergraben. Und so bleibt am Ende der etwas
unangenehme Gedanke zurück, ob man nicht doch einfach ein Spiel mit
Klischees der Postmoderne gesehen hat. Eine wirkliche Haltung oder
zumindest eine Not, die Verzweiflung über den Verlust des
Subjektglaubens und des Fortschrittsglaubens wird nicht sichtbar. Es
bleibt ein gutes Handwerksstück. postmodern. und stabil. ungefährlich.
Wie sich die Arbeitsweisen ähneln können und doch der Unterschied
deutlich werden kann: Romeo Castellucci arbeitet in Tragedia
endogonidia ganz ähnlich. Auch er verflicht Motive, Mythen, bekannte
Bilder zu einem Netz von Verweisen. Auch seine Hauptthese scheint zu
sein, dass die eindeutige Sinnstiftung dieser Mythen nicht mehr
funktioniert, und man kann seine diebische Freude daran beobachten,
diese Sinnstiftung zu stören. Doch ist diese Freude an der Arbeit, die
Präzision seiner technischen und inszenatorischen Erfindungen und die
Oppulenz seines immerhin elf-teiligen Opus um die heutigen
Möglichkeiten einer Tragödie so groß, dass man eher das Gefühl hat,
dass hier jemand diese Befreiung von der Eindeutigkeit feiert und
durch eine Vielzahl an Parataxen, Assoziationen und auch Eingriffen in
die Wahrnehmung des Publikums durch schockierende Aktionen eine
Vielzahl an Kurzkommentaren über den Zustand der Welt unterbringt und
einen am Ende des Abends mit einem arbeitenden Kopf und nicht enden
wollenden Ideen nach Hause schickt.
Es bringt fast nichts, die einzelnen Episoden nachzuerzählen, weil
gerade die langsame Ausführung der Prozesse, die unglaubliche
Fähigkeit der DarstellerInnen, mit einer Distanz zu ihren Figuren und
minimalistischen darstellerischen Mitteln die Impulse für all die
Assoziationen zu setzen und gleichzeitig eine musikalische Spannung
aufrechtzuerhalten, die bewundernswert ist, all diese Dinge zum
Gesamteindruck dieses Abends beitragen. Sollte jemand von Euch
Gelegenheit haben, die anderen Episoden zu sehen hat er oder sie ja
Gelegenheit, sich selbst von der Qualität dieser Truppe und der
Vielfalt des entworfenen Zeichenuniversums zu überzeugen.
Das Spektakel um Abraham, der den warnenden Engel nicht sieht und
Isaak versehentlich selbst opfert, um Oedipus, dem nach dem Rätsel der
Sphinx nur drei Autos einfallen, die (in Realitas und aus etwa 30 m
Höhe!!!!!) auf die Bühne fallen und der über diese Idee so ins Grübeln
gerät, dass er seine Mutter, die ihm verzweifelt die Brust bietet gar
nicht sieht und diese zu einer grotesken Masse wird, die rhythmische
Laute ausstößt, um Jesus, der auf einem Auto gekreuzigt wird und drei
Polizisten, die sich in Zitierung einer KZ-Szene gegenseitig mit
Wasser abspritzen, um dann selbst als Herrscher aufzutreten und
staatstragende Märsche abzuhalten, um einen weißten Pferdehintern, der
schwarz wird.... es ist eine brilliante Aufführung im postmodernen
Geist.
bevor ich in wenigen Stunden das Theater Nanterre-Amandiers besuche,
um mir eine zeitgenössische Medea-Version anzusehen möchte ich noch
kurz über die beiden anderen Aufführungen berichten, um gar nicht erst
in Verzug zu geraten mit meinem Versprechen, das, was ich hier sehe,
auch weiterzugeben.
Lasst Euch also berichten von "Faust ou la fête electrique" von
Gertrude Stein im Théâtre de la Villette (Compagnie Les Endimanchés,
Inszenierung und Musik: Alexis Forestier) und von "P. #06 Paris.
Tragedia endogonidia - VI Episode" von Romeo Castellucci im Odéon,
Théâtre de l'Europe aux Atheliers Berhier.
Beide Abende haben viel gemeinsam: Sie beziehen sich beide Texte,
deren kulturelle Bedeutung weit über die jeweilige schriftlich
fixierte Originalversion hinausgeht, deren Handlungsmotive längst
Allgemeingut geworden sind. In einem Fall spreche ich von Faust, im
anderen Fall von biblischen wie antik-griechischen Mythen bzw.
Geschichten (Abraham und Isaak, Oedipus, Jesus Christus). Beide
versuchen, diese alten Motive in abgewandelter Form dafür zu
verwenden, heutige Deutungen zu liefern und so in einem Fall eine
Studie über das postmoderne Subjekt, im anderen Fall eine politische
Tragödie für die heutige Zeit zu konstruieren.
Der Text "Faust ou la fête electrique" variiert und perpetuiert in
immer gleichen, zu Floskeln erstarrten Formulierungen mehrere
abgewandelte Handlungsmotive aus Faust I und II. Faust ist
gelangweilt. Er weiß alles, doch nicht befriedigt ihn. Er hat das
elektrische Licht erfunden und so der Menschheit unglaubliche
Bereicherung gebracht - doch bleibt ihm tiefere Erkenntnis versagt. Im
Unterschied zur Goetheschen Version ist an dieser Stelle aber auch der
Pakt mit Mephisto schon vorbei. Die moralische Verfehlung hat längst
Ihren Reiz verloren.
Mephisto selbst ist machtlos. Er klagt Faust an, ihn betrogen zu
haben, indem er ihm eine Seele versprochen hätte, die er, Faust, gar
nie besessen habe. Faust kann den Triumpf jedoch nicht genießen.
Vielmehr verlangt er mit großer Sehnsucht nach einer Seele, um mit ihr
in die Hölle gehen zu können. Um wenigstens diesen Beweis einer
Echtheit, einer Realität, einer Erkenntnis zu erlangen, tötet er den
Schüler und den Hund, die in seiner Studierstube Unterschlupf gefunden
haben. Das Projekt bleibt erfolglos.
Verwoben ist diese Zustandsbeschreibung des modernen, sinnentleerten
Subjekts mit einer anderen Figur, einer Frauenfigur mit zwei Namen:
"Margarethe Ida und Helèn Annabel". Dieses Wesen, das immer wieder
diese beiden Namen widerholt und dem die Übereinstimmung einer dieser
Identitäten mit sich selbt verweigert wird kommt zu Faust, da es von
einer Viper gebissen wurde. Faust kann jedoch keine Hilfe leisten, und
Margarethe Ida und Helèn Annabel stirbt, erstummt und erstarrt. Die
Inszenierung lässt die Viper in Gestalt eines bürgerlichen
Klischeeehemanns auftauchen und inszeniert den Tod als Weg in ein
trautes Wohnzimmeridyll.
Der Untertitel des Stückes "opéra fait pour être chanté" wird für
Alexis Forestier zum Programm: Er hat das gesammte Stück mit Musik
versehen. Es ist ein Musikversuch, eine Musikverhinderung. An Kurt
Weil erinnernde Instrumentarien ratschen und versuchen, eine
durchgehende Melodie, eine Gesangslinie zu erzeugen - doch scheitern
sie daran. Die immer wieder wiederholten Textzeilen sind kunstvoll
ineinandergewebt als ständiges Rauschen stockender Schallplatten. Die
Anklänge an Kurt Weil, an das Brechtsche Aufklärungstheater, an den
Überzeugungsgeist der Faust-Tragödie, an die Möglichkeit zumindest
einer Erotik, die auch ohne Ziel, ohne Bestimmung bleibt - dieses Netz
an Verweisen spielt sich ab in einem Raum, der vollgestopft ist mit
riesigen Metallteilen, Bögen, Stangen, Stühlen, Tischen - und
ausschließlich mit Glühbirnen erhellt wird. Diese Metallteile
strukturieren den Abend, denn sie befinden sich in ständigen Bewegung
und lassen eine sinnlose Bühnenmaschinerie ablaufen, die die Menschen
nur noch wie einen Nachklang ihrer selbst bestehen lässt.
Leider wirkt diese mechanische Abarbeitung der Prozesse wie ein
Sinnbild für die ganze Arbeit: Sorgsam ausgesuchte Versatzstücke der
Postmoderne, der Subjektkritik werden kunstvoll angeordnet und
abgeschnurrt. Die Poesie, die Wehmut, die Fragilität der Stein-Texte
wird dabei völlig untergraben. Und so bleibt am Ende der etwas
unangenehme Gedanke zurück, ob man nicht doch einfach ein Spiel mit
Klischees der Postmoderne gesehen hat. Eine wirkliche Haltung oder
zumindest eine Not, die Verzweiflung über den Verlust des
Subjektglaubens und des Fortschrittsglaubens wird nicht sichtbar. Es
bleibt ein gutes Handwerksstück. postmodern. und stabil. ungefährlich.
Wie sich die Arbeitsweisen ähneln können und doch der Unterschied
deutlich werden kann: Romeo Castellucci arbeitet in Tragedia
endogonidia ganz ähnlich. Auch er verflicht Motive, Mythen, bekannte
Bilder zu einem Netz von Verweisen. Auch seine Hauptthese scheint zu
sein, dass die eindeutige Sinnstiftung dieser Mythen nicht mehr
funktioniert, und man kann seine diebische Freude daran beobachten,
diese Sinnstiftung zu stören. Doch ist diese Freude an der Arbeit, die
Präzision seiner technischen und inszenatorischen Erfindungen und die
Oppulenz seines immerhin elf-teiligen Opus um die heutigen
Möglichkeiten einer Tragödie so groß, dass man eher das Gefühl hat,
dass hier jemand diese Befreiung von der Eindeutigkeit feiert und
durch eine Vielzahl an Parataxen, Assoziationen und auch Eingriffen in
die Wahrnehmung des Publikums durch schockierende Aktionen eine
Vielzahl an Kurzkommentaren über den Zustand der Welt unterbringt und
einen am Ende des Abends mit einem arbeitenden Kopf und nicht enden
wollenden Ideen nach Hause schickt.
Es bringt fast nichts, die einzelnen Episoden nachzuerzählen, weil
gerade die langsame Ausführung der Prozesse, die unglaubliche
Fähigkeit der DarstellerInnen, mit einer Distanz zu ihren Figuren und
minimalistischen darstellerischen Mitteln die Impulse für all die
Assoziationen zu setzen und gleichzeitig eine musikalische Spannung
aufrechtzuerhalten, die bewundernswert ist, all diese Dinge zum
Gesamteindruck dieses Abends beitragen. Sollte jemand von Euch
Gelegenheit haben, die anderen Episoden zu sehen hat er oder sie ja
Gelegenheit, sich selbst von der Qualität dieser Truppe und der
Vielfalt des entworfenen Zeichenuniversums zu überzeugen.
Das Spektakel um Abraham, der den warnenden Engel nicht sieht und
Isaak versehentlich selbst opfert, um Oedipus, dem nach dem Rätsel der
Sphinx nur drei Autos einfallen, die (in Realitas und aus etwa 30 m
Höhe!!!!!) auf die Bühne fallen und der über diese Idee so ins Grübeln
gerät, dass er seine Mutter, die ihm verzweifelt die Brust bietet gar
nicht sieht und diese zu einer grotesken Masse wird, die rhythmische
Laute ausstößt, um Jesus, der auf einem Auto gekreuzigt wird und drei
Polizisten, die sich in Zitierung einer KZ-Szene gegenseitig mit
Wasser abspritzen, um dann selbst als Herrscher aufzutreten und
staatstragende Märsche abzuhalten, um einen weißten Pferdehintern, der
schwarz wird.... es ist eine brilliante Aufführung im postmodernen
Geist.
... link (0 Kommentare) ... comment
... older stories